Nachrichten vom Höllenhund


Genazino
6. September 2011, 19:32
Filed under: - Belletristik

Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären

Im Radio erklang Mozarts einziges Fagott-Konzert in B-Dur. Es war nicht leicht, aus der Stille herauszutreten. Ich fühlte mich beschämt, wusste aber nicht weshalb. Kein Mensch, dachte ich, ist zu einer wahrheitsgemäßen Darstellung seiner inneren Lage fähig. Das war schon wieder klug, also irgendwie unbrauchbar. Wenn ich mich nicht täuschte, stand uns eine Peinlichkeit bevor. Undurchschaubare Einzelheiten durchkreuzten unser Leben. Ich fürchtete, dass meine gewöhnliche tägliche Trauer irgendwann in ein leichtes Deppentum übergehen könnte. Wieder sehnte ich mich nach einer Lebenseinfalt, die es nicht gab.

Der Tausendfüßler, hat vielleicht irgendwer gesagt, fängt an zu stolpern, sobald er darüber nachdenkt, mit welchem Fuß er als nächstes auftreten soll. Der Mann mit den tausend Gedanken geht in „ein leichtes Deppentum“ über, weil darüber die Welt ihren Zusammenhang und vielleicht auch ihren Sinn verliert. Wilhelm Genazinos verlottert weise Helden flanieren durch die Städte und finden tausendfach Staunenswertes, „zu viele überflüssige Erlebnisse“: „Die Hälfte dessen, was ich erlebte, wäre für mich ausreichend gewesen. Aber ich konnte oft nicht schnell genug erkennen, welches Erlebnis entbehrlich war und welches nicht. Mein Hauptanliegen war die allgemeine Lebensersparnis.“ Im Großen wie im Kleinen, in den Straßen und im Kopf häuft es sich an. Und wenn es nur ein Kürbiskernbrötchen ist. Die Folge: analytische Lähmungen.

Auf gewisse Weise zufrieden ging ich nach Hause. Momentweise kehrte ein Gefühl zurück, in dem ich früher, als ich noch frei ar­beitete, halbe Tage verbrachte. Damals konnte ich sogar die Augenblicke spüren, dass ein Tag dann und nur dann mir gehörte, wenn ich stundenlang ohne Absichten und ohne Pläne in diesem Tag herumlief. Dabei wollte ich im­mer nur sehen, ob die Leute auch heute das taten, was sie gestern und vorgestern schon getan hatten. Wie die mei­sten Menschen, die mit starken Verdächtigungen umher­gehen, wusste ich von allem zuwenig. Jetzt aber kehrte ich mit zwei stark reduzierten Kürbiskernbrötchen nach Hause zurück. In meinem Kühlschrank fand ich einen Rest Mett­wurst und einen halben Camembert. Ich hatte vergessen, dass viele Kürbiskerne von einem Brötchen heruntersprin­gen, wenn man das Brötchen durchschneidet. Im Nu hüpf­ten viele Kürbiskernhälften auf den Boden meiner kleinen Küche. Ich aß zuerst die mit Käse belegte Brötchenhälfte und schob dabei mit der Hand die auf den Boden ge­fallenen Kürbiskerne zu einem Häufchen zusammen. Ich wollte das Häufchen in den Mülleimer schütten, aber plötzlich gefiel mir das Kürbiskernhäufchen, so dass ich es auf dem Boden liegen ließ. Ich stellte es mir schön vor, morgen oder übermorgen von der Arbeit zurückzukehren und dann zu denken: Oh! Mein Kürbiskernhäufchen ist wieder da! Wurde ich allmählich verrückt? Nach meiner Kenntnis wurden die Menschen nicht auf einen Schlag ver­rückt, sondern langsam, sehr allmählich. Genau diese Ent­wicklung traf auf mich zu. Ich hatte mir diese Frage schon vor vielen Jahren gestellt. Eine kleine Unruhe trieb mich zum Fenster, ich kaute und sah auf die Straße. Ein Mann mit zwei Plastiktüten lief suchend umher. Zwischen zwei Mülltonnen fand er eine Krücke. Er nahm sie und ging mit ihr weiter. Es sah aus, als hätte er seit vielen Jahren nach einer Krücke gesucht. Ich wurde nicht verrückt, aber auch nicht ruhig. Es gab inzwischen viele Verrückte oder Fast­verrückte oder zeitweise Verrückte.

Entscheidend aber wieder einmal: Genazinos streunender Held schnopert den Röcken nach, den Frauen kann er nicht widerstehen, sie treiben ihn hierhin, dorthin, er will nicht festkleben, aber der Intellekt ist zu schwach. Und so sind es schließlich Thea, Maria, Karin und viele bloß Beobachtete. Der Mensch ist auf den Hund gekommen, die Frage nach dem Authentischen verliert sich in dem naheliegenden Vorstellung, ob es anders wäre, “wenn wir Tiere wären”. „Wenn wir Tiere gewesen wären, hätten wir dann und wann mit den Flügeln schlagen können„.

Die Charakteristik findet man im “Faust”:
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Er scheint mir, mit Verlaub von euer Gnaden,
Wie eine der langbeinigen Zikaden,
Die immer fliegt und fliegend springt
Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt;
Und läg er nur noch immer in dem Grase!
In jeden Quark begräbt er seine Nase.

Die Haupt­überlegung war die Frage, ob die Kleinkriminalität ein Ausfluss verfrühter Melancholie oder des vorzeitigen Al­terns war. Ich saß vor einem zur Hälfte ausgetrunkenen Milchkaffee, hörte dem Tröpfeln des Regens zu und be­trachtete erneut die erbarmungswürdigen, wie Erniedrigte und Beleidigte herumstehenden Altbauten. Eine Wespe hatte starkes Interesse an meinem Milchkaffee und ließ sich wie ein winziger Hubschrauber in die Tassenöffnung hinab. Ich staunte, als ich sah, wie sicher die Wespe sogar in dem engen Tasseninnenraum fliegen konnte. Mit winzi­gen, schnell wiederholten schaukelnden Bewegungen hielt sie sich im dünnen Luftraum der Tasse und ließ sich dann an einer weniger schaumigen Stelle der Tasseninnenwand nieder. Wenn mich in diesen Augenblicken jemand gefragt hätte, was man am besten nach Feierabend tun soll, hätte ich geantwortet: Suchen Sie sich ein kleines Tier und be­trachten Sie es. Aber es kam niemand und fragte mich.

Die Handlung ist banal und auch nicht von Belang. Sie bildet ein Gerüst, um das sich die unzähligen Details des Weltinnenraums ranken, die Handlung macht den kleinen Unterschied zu den anderen Büchern Genazinos. Davon muss man nicht schreiben, das muss man nicht lesen. Spaß macht es zum einen wegen Genazinos allmählich immer mehr zur Marotte verkommenden gestelzten Formulierungen – bei Rührung werden die Augen “eingefeuchtet”, die “Lebensersparnis” nervt, aber auch Geschlechtliches wird in dieser kauzigen Sprache entromantisiert -, zum anderen weil man doch so manche Ähnlichkeit zu diesem Helden im Spinnennetz entdeckt. „Ich war ein moderner, zuweilen konfuser Mann geworden, der seiner Ich-Suche überdrüssig geworden war (das war meine Vermutung) und seine temporäre Verwirrung mehr und mehr annahm.“ Das bin doch ich.

2011                  160 Seiten

 Leseprobe beim Hanser-Verlag

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