Nachrichten vom Höllenhund


Arjouni
19. Oktober 2011, 19:58
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White

Lieber Doktor Layton,
es war schön, Sie heute Morgen kennenzulernen. Wenn man das bei dem Anlass so sagen kann. Ich hatte mir unter einem Kriminalpsychologen etwas anderes vorgestellt: einen kalten schlauen Typ, der mich für den Prozess möglichst Weichklopfen soll. Ich fand Sie freundlich und höflich, und Sie wussten nicht schon alles. Die meisten, denen ich seit meiner Verhaftung begegne, wissen immer alles: was meine Probleme sind, wie ich am besten mit der Sache umgehe, wie ich mich fühle und so weiter. Es tat gut, von Ihnen wie ein Unbekannter behandelt zu werden.[…]
Um die Bilder zu vertreiben, habe ich mir andere Bilder zurechtgelegt. Sozusagen als Gegengift, als Notapotheke. Ich setze mich tagsüber hin und denke konzentriert an schöne Momente mit dem Ninu und Marilyn. Die präge ich mir möglichst ge­nau ein, und wenn es nachts wieder so weit ist, zwinge ich mich, mir diese anderen Bilder vor Au­gen zu holen. Dabei rede ich zu den beiden wie in einem Gebet. Ich wiederhole einfache Sätze wie »Ich liebe dich«, »Vergiss mich nicht«, immer wie­der, und wiege mich dabei vor und zurück. Klingt komisch, aber es funktioniert. Nach einer Weile be­ruhige ich mich.
[…] Wenn ich dann wieder atmen kann und einiger­maßen ruhig bin, setze ich mich an den Tisch und zeichne an meinen Comics. Und irgendwann ist zum Glück Frühstück.
Außerdem, Doktor Layton, sehen Sie: Ich halte mich nicht für so schuldig, wie die Zeitungen und viele andere tun. Es sind vor allem die Bilder, die mir Angst machen. Ich stelle mir vor, das ist wie im Krieg. Man glaubt vielleicht, auf der richtigen Seite für die richtige Sache zu kämpfen, aber wie das aus­sieht, wenn jemand verblutet oder beim Sterben schreit, das hat mit richtiger oder falscher Sache nichts zu tun. Verstehen Sie? Im Halbschlaf die Bil­der, das ist furchtbar, aber sobald ich nachdenke, geht es. […]
Wie gesagt, morgen fange ich den Bericht an.
Mit freundlichen Grüßen, Rick Fischer

Rick berichtet, wie es dazu kam, dass er mit 18 schon im Gefängnis sitzt, er fragt sich, ob er die Tat hätte vermeiden können, ob er überhaupt verantwortlich ist, ob er zu feige oder zu brutal war, ob er nicht auch ein Recht auf ein bisschen Lebensglück hat.

Rick gerät auf der Suche nach einer Lehrstelle in den “Heimatschutz”, eine Gruppe einfältiger Neonazis, und er weiß sich nicht zu wehren, wird “Opfer” und soll Täter werden, auch weil er Angst hat, dass sie seiner Tante und seiner neuen Freundin was antun werden. Er versucht seine Ängste in Comics zu verarbeiten, in denen Cherryman Mr. White jagt. Aber die Realität ist wie immer stärker. Die Anordnung wirkt wie das Klischee, das es aber gibt.

Jakob Arjouni gibt Rick in den Briefen an den Gefängnispsychologen Raum, seine auseinanderstrebenden Gedanken zu ordnen, zu reflektieren. Arjouni stört ihn nicht dabei, er lässt ihm Zeit, die auch für den Leser gedacht ist.

„Oder kam es gar nicht zum blutigen Finale? Ist Ricks Geschichte einfach der überbordende Selbstentwurf eines Jugendlichen, der begriffen hat, dass es in seiner Welt Lehrstellen nur für national gesinnte Volksgenossen gibt? Für diese Lesart spricht die Erzählkonstruktion, denn Rick erzählt die Story dem Psychatriearzt Dr. Layton. Wo soll es einen Spezialisten solchen Namens geben? Er könnte eine Fiktion in der Fiktion sein, die Konstruktion eines emphatischen Gegenübers, ausgedacht von einem Menschen, der in die Enge getrieben ist.
Dann wären wir in der Rolle dieses Nervenarztes, der zuhört und begreift: Die Feinde unserer Gesellschaft wachsen womöglich weniger in Moscheen heran als in deutschen Gärtnereien.“ (Daniel Haas, FAZ)

Spannung ist angedeutet, explodiert. Bleibt das kleine Glück auf der Strecke? Man sollte nicht vergessen, dass ein gutmeinender, aber doch noch nicht erwachsen gewordener Junge erzählt.

Der kurze Roman, eine Novelle fast, handelt von der Frage, wie man mit der rechten stumpfsinnig motivierten, billig camouflierten Gewalt umgehen kann. Ob Widerstand möglich und wann sinnvoll erscheint. Er schreibt ein Stück Alltag aus Brandenburg, das besonders für Jugendliche interessant sein dürfte. Deshalb ist das Buch auch geeignet als Schullektüre. (Wie auch Arjounis Roman “Hausaufgaben”)

2011       168 Seiten

Leseprobe beim Diogenes Verlag

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