Nachrichten vom Höllenhund


Jacobson
19. Dezember 2011, 19:06
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Howard Jacobson: Die Finkler-Frage

Wenn Finkler von ihren Versammlungen nach Hause kam, fühlte er sich jedenfalls stets wie damals, als er seinen Vater in die Synagoge begleitet hatte – die Welt war ihm zu jüdisch, zu alt, zu gemeinschaftlich in einem anthropologischen, fast urzeitlichen Sinne, zu weit fort, zu tief unten, zu lang vergangen.
Er war ein Denker, der nicht wusste, was er dachte, nur dass er geliebt hatte, gescheitert war und jetzt seine Frau vermisste und dass er dem nicht entkam, was er am Judentum so erdrü­ckend fand, wenn er sich einer jüdischen Gruppe anschloss, die sich traf, um fieberhaft über das Erdrückende am Judentum zu debattieren. Fieberhaft über das Judentum zu reden, das gerade war ja so jüdisch.

Und da kommt man nicht raus. Je weiter man in ein Problem hineindenkt, desto auswegloser werden die Aporien. Man kann sie auch nicht aufheben, wenn man das Gegenteil erwägt, denn die Wahrheit liegt in der Spitzfindigkeit. Die Wahrheit ist immer ihr Gegenteil, der Wunsch, nicht so zu sein, wie man ist, aber auch nicht anders, denn dann wäre man ja wieder festgelegt. Es gibt hinter jeder Ecke noch eine Ecke mehr, um die gedacht werden kann.

Drei Freunde begleiten sich durch ihr Leben, stützen sich, auch in ihrer Gegensätzlichkeit. Libor Sevcik und Samuel Finkler sind Juden, Libor alt, Finkler so um die Fünfzig. Beide haben sie ihre Frau verloren. Sie sind laizistische Juden, eigentlich Juden wider Willen, also typische Juden. Sie gründen sogar den Verein “ASCHandjiddn”, von der “schand”, “ASHamed Jews“ im Englischen. Treslove, der Goi, wird auch bald 50, hatte Frauen, die mit ihm nicht auskamen, sein Wunsch geht in Erfüllung, als er urplötzlich überfallen wird. Von einer Frau. Und die sagt ihm, so hört er es jedenfalls, so legt er es aus: Du Jud! Es könnte auch anders gelautet haben. Treslove zieht seine Konsequenz: Er will Jude werden, jüdisch – ein Finkler. Dann hätter er, der von “Beruf” Doppelgänger ist, als look-alike mietbar, wenigstens eine Identität und wär nicht länger ein gornischt. Ob er weiter a mamser bleibt oder zu einem wird, ist nicht ausgemacht. Er findet in Hephzibah die passende Frau. Hephzibah ist Jüdin, aber nicht so jüdisch, wie Treslove werden will. Das ist die Befriedung und damit ein neues Problem. „Richtige Juden mussten leiden für ihr Leid, doch dieser Julian Treslove meinte, er könne aufs Karussell hüpfen, wann immer ihm danach war, und dürfe sich auf Anhieb schlecht fühlen.“

Sie hätte nicht sagen können, ob er ein Kind von ihr wollte. Im Verlauf eines seiner unzähligen Gespräche über Beschneidung hatte er das Thema zur Sprache gebracht – war er schön genug für sie, war er ihr zu viel, war er zu sensibel, was würden sie tun, wenn sie einen Sohn bekämen, würde er für ihn ein Vater oder eher wie Moses sein? Aber alles hatte ziemlich hypothetisch geklungen und sich mehr um Treslove als um ein Kind gedreht. Sie selbst dachte nicht an Kinder. »Damit hat es keine Eile«, sagte sie stets, was eine nette Umschreibung war für: kein Interesse. Doch hielt er es für ein Scheitern? Seiner eigenen Aussage zufolge war er der schlechteste Vater der Welt. Er hatte ihr das wieder und wieder in einem Ton gesagt, der in ihr die Frage aufkommen ließ, ob er nicht doch beweisen wollte, dass er es besser konnte.
Sie fragte ihn.
»Was? Es mal als jüdischer Vater versuchen? Ich glaube nicht. Es sei denn, du willst … «
»Nein, nein, gar nicht. Ich habe dabei nur an dich …«
Was sein Faible fürs Jüdische insgesamt anging, fand sie dies anfangs amüsant, machte sich deshalb jetzt aber Sorgen. Wollte er das Jüdische wie die Schwermut aus ihr heraussaugen? Sie fürchtete, er könnte beides miteinander verwechseln.
»Juden können auch fröhlich und gesellig sein, weißt du«, sagte sie.
»Wie könnte ich das vergessen, wo wir uns doch bei einem Essen an Pessach kennengelernt haben.«
»Diese Art fröhlicher Geselligkeit, bei der wir gemeinsam unserer Zeit als Sklaven in Ägypten gedenken, habe ich eigent­lich weniger gemeint. Vielleicht habe ich mich falsch ausge­drückt. Ich will damit sagen, Juden können auch richtig ausge­lassen, derb und vulgär sein.«
Noch während sie redete, fiel ihr auf, wie fremd ihr all das geworden war, seit sie sich kennengelernt hatten. Er engte sie ein. Er wollte eine bestimmte Art Frau in ihr sehen, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Dabei gab es manchen Abend, da hätte sie sich lieber vor den Flimmerkasten gehockt und eine Schmonzette geglotzt, als mit ihm über Beschneidung und Moses Maimonides zu reden. Sie fand es anstrengend, die Vertreterin ihres Volkes für einen Mann zu sein, der beschlossen hatte, dieses Volk zu verklä­ren, wollte sie doch ebenso wenig ihn enttäuschen wie das Juden­tum selbst und dessen gesamte fünftausendjährige Geschichte.
»Gut, seien wir fröhlich, machen wir was Ausgelassenes«, sagte er. »Ein Stück die Straße hinunter spielt im jüdischen Kul­turzentrum eine kleine
Klezmerband zu einem jüdischen Tanz­abend auf. Wollen wir da hin?«
»Ich glaube, da hätte ich doch lieber ein Kind von dir«, sagte sie. »Ehrlich?«
»Nein, nur ein Witz.«
Sie meinte, es in seinem Kopf rattern zu hören. Eine Frau sagt, sie will ein Kind von dir. Wieso ist das in jüdischen Ohren ein Witz?
Und dann war da noch das Problem, dass sie ihn nicht beun­ruhigen wollte. Die Schinkenspeckvandalen hatten wieder zuge­schlagen. Diesmal wurde »Tod allen Jüdischen« an die Mauern gepinselt. »Jüdischen« war muslimisches Hassgerede. Immer häufiger hörte man von kleinen Kindern an gemischten Schu­len, die als »Jüdische« beschimpft wurden. Hephzibah fand diese Entwicklung viel bedrohlicher als die Hakenkreuze, mit denen der weiße Pöbel jüdische Friedhöfe schändete. Hakenkreuze wirk­ten irgendwie kraftlos, halbherzig, waren eher eine Erinnerung an Hass als Hass selbst. »Jüdische!« dagegen – für sie hatte das Wort einen schrecklichen Klang. »Jüdische« waren etwas Wider­liches. Ihr Glaube machte sie gemein und bösartig. Trat man auf sie, quoll »Jüdisches« heraus. Diese Beleidigung ging viel tiefer als »Jidd« oder »Itzig«. Sie richtete sich nicht gegen individuelle Juden, sondern gegen das, was das Jüdische im Kern ausmachte. Außerdem stammte sie aus einem Teil der Welt, in dem der Kon­flikt bereits in Blut badete und der Hass bitter, wenn nicht gar unauslöschlich war. 

Howard Jacobson behandelt alle einschlägig relevanten Themen. Antisemitismus, Antizionismus, Antiisraelismus, Gaza-Streifen, Moses Maimonides, Brit Mila, Frauen und Männlichkeit, Anschläge und Selbsthass und liefert damit eine umfassende Selbstbeschreibung dessen, was nicht zu fassen ist: des Jüdischen. Die Spitzfindigkeiten werden zelebriert, voller Ironie, mit heiterem Ernst. Zu  trauen ist natürlich keinem. Das Klischee entlarvt das Vorurteil, und davon hat natürlich auch der Leser viele. Nicht nur in England.

“Die witzigste jüdische Versuchung seit Philip Roth.” (Felicitas von Lovenberg, FAZ)

2010       436 Seiten              Booker-Prize 2010

Leseprobe bei DVA (pdf)

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