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Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt
Man kann Olga Grjasnowas Buch lesen als die Aufzeichnungen einer jungen Frau, die sich in der Welt finden und ihr Leben gestalten will. Man kann es auch lesen als Logbuch der Verletzungen einer jungen Zicke, die süchtig ist nach Abweisungen und Seelenheil. Einen Hintergrund hat beides in der Biografie von Mascha, der Ich-Erzählerin. Sie stammt, wie die Autorin, aus Baku in Aserbaidschan, ihre jüdisch-armenische Familie ist wenig gelitten und gerät nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Bürgerkrieg um Bergkarabach. Sie können fliehen, stranden eher zufällig in Deutschland, weil es da gerade ein Zeitfenster für die Einreise auf Judenkontingent gab und obwohl die Mutter feststellt, hier sei „die Asche noch warm„. Mascha ist polyethnisches Weltkind, lebt neben oder zwischen den Religionen, spricht Arabisch, Russisch, Französisch fließend, bald auch Deutsch und will Dolmetscherin werden. Ideologien bedeuten ihr nichts.
In Deutschland machen es ihr Schule und Behörden nicht leicht, aber sie findet in Frankfurt Elias, Elischa, den Freund, der alles gut werden lässt, eine Illusion auf ihrer radikalen Suche nach Nähe und Geborgenheit. Elias’ Eltern präsentieren sich als deutsche Ekel, er stirbt an den Komplikationen eines eigentlich einfachen Oberschenkelbruchs. Mascha kriegt Elischa nicht aus dem Kopf. Das Trauma setzt sich fort, Mascha kriegt ihre Gefühle nicht geregelt. Sie lässt sich mit anderen – Männern und Frauen – ein, weil sie durch sie Elischa spüren will. Sie lässt sich aber nicht auf die anderen ein, verhält sich barsch, selbstgefällig und abweisend; es ist nicht leicht, sie zu mögen. Ihr bleiben eigentlich nur Cem, der „Türke“, und Sami, Palästinenser, beide durch die Welt irrend wie sie selbst.
Mascha will als Dolmetscherin zur UNO, so weit ist ihre Welt, sie findet einem Job in Israel, doch treibt sie in Israel weniger ihre berufliche Zukunft als das Vergessen. In Tel Aviv und später in den Palästinensergebieten verdoppelt sich die Zerrissenheit, sie erlebt ein Land, das selbst nicht mit sich Eins ist. An Ruhe und Geborgenheit ist nicht zu denken.
Sami hob sofort ab, und ich hörte ein entferntes Frauenlachen und Sami, der das Lachen ermahnte, still zu sein.
»Bitte hol mich ab«, sagte ich.
»Wo bist du?«
Ich sah mich um, ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich war aus dem Lager herausgelaufen und stand nun mehr oder weniger in einem Feld. Um mich herum wuchsen Olivenbäume und jeder sah gleich aus. Am Horizont leuchteten die roten Dächer einer Siedlung.
»Mach keinen Scheiß. Sag mir sofort, wo du bist.« Ich versuchte normal zu klingen: »Ich weiß es nicht.«
»Bist du in Tel Aviv?«
»Palästina. Ich stehe mitten in einem Feld. Die Sonne geht unter.«
»Ich nehme den nächsten Flug. Ich bin morgen früh da.«
»Sami, ich verliere Blut.«
Elischa reicht mir ein Taschentuch. Ich halte es an meine Nase und lehne den Kopf zurück. »Du musst den Kopf hochhalten. Sonst hört die Blutung nicht auf.«
»Höher«, sagt Elischa. »Ja, genau so.«
Ich hake mich bei ihm unter, und wir gehen eine Weile nebeneinanderher. Die Sonne ist schon fast untergegangen, aber es ist noch hell.
Olga Grjasnowa schreibt engagiert, enragiert, stolz und verletzt. Oft sind es kurze Sätze, die sie vorwärts treiben, es finden sich Zynismen, der Stil ist Ausdruck ihrer Zerrissenheit, sie will nichts beschönigen, sie stellt sich den Problemen aus Welt und Selbst. Beeindruckend nahe ist sie an der prekären Situation Israels und der Israeli, ihr Hintergrund erlaubt ihr aber keine Empathie, obwohl sie ja selbst Jüdin ist. “Zeitgeschichtlich wach“ und „literarisch eigensinnig“ wie lange kein deutsches Debüt, findet Ursula März in der ZEIT. Breiten Raum nehmen ihre Gefühlsverwirrungen ein. Sie schwitzt, friert, isst oder nicht, sucht ziellos, verliert sich. Joints und später Benzodiazepine sind ständige Begleiter.
Ich zwang mich dazu, meine Eltern anzurufen. Die Gespräche verliefen zäh, ich spielte immer noch die erfolgreiche Tochter, aber sie glaubten mir nicht mehr und suchten nach Rissen in der Fassade. Doch meine Trauer war keine Krankheit und Israel kein Sanatorium. Mein Vater hatte mir sogar ein Teleskop geschickt, das fast nicht durch den Zoll gekommen wäre.
Bei alldem wusste ich nicht, weshalb ich nicht mit ihnen reden konnte. Schon nach wenigen Minuten hatte ich genug, kein Satz kam mehr über meine Lippen und ich hörte auch nicht mehr hin, obwohl ich doch mit dieser Tätigkeit mein Geld verdiente. Ich wünschte, ich wäre ihnen gegenüber aufmerksamer und interessierter gewesen, doch ich vernachlässigte sie und log sie an, was meinen Zustand betraf.
Auf der anderen Seite: Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, überkam mich manchmal die Sehnsucht nach einem Zuhause, ohne dass ich es hätte lokalisieren können. Wonach ich mich sehnte, war ein vertrauter Ort. Eigentlich hielt ich nichts von vertrauten Orten – der Begriff Heimat implizierte für mich stets den Pogrom. Wonach ich mich sehnte, waren vertraute Menschen, nur war der eine tot, und die anderen ertrug ich nicht mehr. Weil sie lebten.
Olga Grjasnowa ist 1984 in Baku, Aserbaidschan, geboren, 1996 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Auf dem Buchumschlag ist ihr Foto. Der Mund ist rot geschminkt, die Augen blicken direkt und verschlossen. Ein Phantombild von Mascha. Beide in die Welt geworfen, beide kennen nur ihre Zeit. Der Titel des Romans spielt auf Nationalklischees an, die Birken stammen von Tschechow.
Cem setzte sich an mein Bett und sagte, er und sein Freund hätten für Elias in Griechenland Klageweiber angeheuert, die die nächsten achtundvierzig Stunden Elias‘ Tod beklagen würden. Ich könnte sie über einen Livestream im Internet beobachten. Er hätte dafür eigens einen Youtube-Kanal eingerichtet. Er zog sein Notebook aus der Tasche, und ich sah auf dem Bildschirm zwei verhüllte alte Frauen, die nichts taten, außer in einem nahezu leeren Raum auf weißen Plastikgartenstühlen still zu sitzen. Cem starrte enttäuscht auf den Bildschirm und stieß einen türkischen Fluch aus. Anschließend rief er Konstantin an. Ich hörte auch Konstantin am anderen Ende der Leitung fluchen. Konstantin muss wiederum jemanden in Griechenland angerufen haben, denn bereits eine Viertelstunde später nahmen die Klageweiber ihre Arbeit auf: Sie schrien, heulten und schluchzten. Wir sahen ihnen eine Weile lang zu, sie wiederholten immer wieder einen einzigen Satz. Zumindest klang es für uns wie ein Satz. Ich fragte Cem, was er bedeutete, er wusste es nicht. Wir riefen wieder Konstantin an.
»Ich kann es nicht hören«, sagte Konstantin. »Das ist zu leise.«
Wir hielten das Telefon näher an den Bildschirm. »Tun. Leiden. Lernen«, übersetzte Konstantin. »Weshalb zitieren sie die Orestie?«, fragte Cem. »Das sind Griechen«, sagte Konstantin. »Ruf sie wieder an«, sagte Cem.
Die Welt von 2010 kann auch lustig sein.
2012 285 Seiten
Olga Grjasnowa liest auf zehnseiten.de
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