Nachrichten vom Höllenhund


Gasdanow
12. Januar 2013, 12:13
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Gaito Gasdanow:
Das Phantom des Alexander Wolf

gasdanowDer Erzähler trifft in den Wirren der Zeit nach dem ersten Weltkrieg im südlichen Russland auf einen Trupp Reiter, die sein Pferd erschießen. Er tötet einen Reiter durch einen gezielten Schuss und flieht mit dessen weißem Pferd. Er überlebt den Bürgerkrieg und emigriert nach Paris. Jahrzehnte später liest er ein Buch des Schriftstellers Alexander Wolf und findet darin diese Geschichte, geschildert aus der Sicht des Opfers. Es lässt ihm keine Ruhe, dass es einen überlebenden Zeugen dieser Episode gibt und er macht sich auf die Suche nach dem Schriftsteller. Zunächst wird er von dessen Verleger abgewiesen, macht aber über einen Freund schließlich die Bekanntschaft mit Alexander Wolf, dem „Phantom“. Sascha Wolf hat den Schuss überlebt, er hält auch das für Schicksal, für vorgegeben, er hat das in seiner Erzählung verarbeitet, das Thema lässt ihn aber nicht los.

»Zum Schah kam einmal sein Gärtner, in höchster Auf­regung, und sagte zu ihm: Gib mir dein schnellstes Pferd, ich möchte so weit wie möglich fortreiten, nach Isfahan. Gerade als ich im Garten arbeitete, habe ich meinen Tod gesehen. Der Schah gab ihm das Pferd, und der Gärtner sprengte nach Isfahan. Der Schah ging in den Garten; dort stand der Tod. Er sagte zum Tod: Weshalb hast du meinen Gärtner so erschreckt, weshalb bist du ihm er­schienen? Der Tod erwiderte dem Schah: Ich habe das nicht gewollt. Ich war erstaunt, deinen Gärtner hier zu sehen. In meinem Buch steht geschrieben, ich würde ihm heute Nacht weit von hier begegnen, in Isfahan.«
Nach einer Weile fuhr er fort:
»Ich kenne viele Fälle, in denen der Sinn einer solchen Bewegung sich besonders klar darstellt. Ich habe Ihnen von dem Schneider erzählt. Hier ein anderes Beispiel: ein russischer Offizier, erst war er im Weltkrieg, dann im rus­sischen Bürgerkrieg. Sechs Jahre verbrachte er auf vor­geschobenem Posten. Fast alle seiner Kameraden kamen um. Er wurde mehrfach verwundet, einmal kroch er, zwei Kugeln im Leib, unter Beschuss vier Kilometer weit. Viele Male entging er wie durch ein Wunder dem Tod. Doch er blieb am Leben. Dann war der Krieg zu Ende, er kam in das friedliche Griechenland, wo ihm, sollte man mei­nen, nichts gefährlich werden konnte. Zwei Tage nach sei­ner Ankunft ging er nachts durch den Vorort eines klei­nen asiatischen Städtchens, fiel in einen Brunnen und ertrank. Überlegen Sie doch – lohnte es sich denn, solch eine schreckliche Anstrengung, unter Beschuss wegzu­kriechen, dabei vor Schwäche ständig das Bewusstsein zu verlieren, lohnte es sich denn, so viel unbeirrbare Tap­ferkeit und so viel Heldenmut aufzubringen, um eines Nachts in einem Brunnen zu ertrinken, nachdem alle Ge­fahren überwunden waren?«
»Und Sie glauben, der Sinn all dessen, was existiert, sei letztlich dieser tödliche Fatalismus?«
»Das ist kein Fatalismus, das ist die Richtung des Le­bens, das ist der Sinn jeglicher Bewegung. Vielmehr, nicht der Sinn, sondern die Bedeutung.«

Wichtig für das Leben des Erzählers wird eine Frau, die seltsam schöne, rätselhafte Jelena Nikolajewna, Lenotschka. Sie bewundern sich gegenseitig, Jelena hält ihn aber merkwürdig auf Distanz, verweigert ihm vor allem Details aus ihrem bisherigen Leben, sie “hatte jahrelang ein interessantes Leben geführt, erfüllt mit überraschenden Ereignissen, Reisen, Begeg­nungen und einigen, wie sie sagte, »unvermeidlichen« Liebesaffären”. Jelena aber bleibt verschlossen.

Woher rührte ihre seelische Kälte? Ich wusste zwar aufgrund wiederholter Erfahrung, dass Charme oder Anziehungs­kraft einer Frau nur so lange auf mich wirkten, als in ihr etwas Unbekanntes blieb, ein unerforschter Raum, der mir die Möglichkeit – oder die Illusion – bot, stets von neuem ihr Bild zu erschaffen und sie mir vorzustellen, wie ich sie gerne gesehen hätte, und wahrscheinlich nicht, wie sie in Wirklichkeit war. Es ging nicht so weit, dass ich Lü­gen oder Hirngespinste einer offensichtlichen Wahrheit vorgezogen hätte, aber besonders tief gehendes Wissen barg zweifellos eine Gefahr in sich, dazu mochte man ge­nauso wenig zurückkehren wie zu einem gelesenen und verstandenen Buch. Zugleich war der Wunsch nach Wis­sen vom Gefühl stets untrennbar, keine Argumente konn­ten das ändern. Ohne diese innere und so deutliche Ge­fahr wäre mir das Leben womöglich zu flau vorgekommen. Ich war mir sicher, dass über einem bestimmten Zeitab­schnitt von Jelena Nikolajewnas Dasein ein Schatten lag, und ich wollte erfahren, wessen Augen ihren unbeweg­lichen Widerschein in Jelena Nikolajewnas Augen gefun­den hatten, wessen Kälte so tief in ihren Körper gedrun­gen war – und vor allem, wie und weshalb das geschehen war.

Schließlich drängt es Jelena zu erzählen, von einem “Mann”, dem sie auf besondere Weise verbunden war und der etwas mit diesem “Schatten” tun zu haben schien. Gasdanow deutet vieles an, sucht oder beschwört schicksalhafte Zusammenhänge, beschwert das Leben mit Sinn und Bedeutungen, die sich natürlich nicht sofort und nicht jedem erschließen. »In Europa gibt es nur ein Land, wo man tatsächlich verstehen kann, was Weite bedeutet, und das ist Russland.« Diese Weite kondensiert in den Seelen der Menschen, sie können ihr nicht entkommen, sie bleiben an ihr Schicksal gebunden, können es aber nur erahnen. Die Vergangenheit trägt die Gegenwart in sich, die Personen verfangen sich in Schlingen, die nur wie zufällig aussehen. Das trägt viel “Seele” und “Tiefe” in sich, dennoch bleiben die Protagonisten einfache Menschen: Reporter, Säufer, Spieler, Selbstzertörer. Gasdanow nennt das “Dasein”. Iris Radisch (ZEIT) nennt es “einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist“. Rosemarie Tietze hat das stilsicher übertragen. Die existenzialistische Tiefe der russischen Weite assimiliert die westliche Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit. Geschichte und Politik finden woanders statt.

Alles, was ich so gut und so lange kannte, alles hatte jetzt einen neuen, bisher nicht existenten Sinn bekommen, gerade als wäre es die Dekoration für das einzige und natürlich unübertreffliche Theaterstück, das menschliche Einbil­dungskraft hervorzubringen vermag. Es konnte so etwas wie eine Dekoration sein. Es konnte außerdem so etwas wie eine Art visueller Ouvertüre zu der anhebenden – und ebenfalls natürlich unübertrefflichen – Melodie sein, die von Millionen Menschen ich allein hörte und die sogleich erklingen würde, wenn die Tür im ersten Stock vor mir aufginge, eine Tür wie tausend andere und dennoch die einzige in der Welt. Mir schien damals – und alle meine Erfahrung, alles, was ich wusste, sah und verstand, alle Ge­schichten von Treubrüchen, Unglücken, Dramen sowie die tragische Unbeständigkeit alles Seienden waren zu schwach, dem etwas anzuhaben – mir schien damals, als sei geschehen, worauf ich mein Leben lang so vergeb­lich gewartet hatte und was kein Mensch außer mir selbst begreifen konnte, denn niemand hatte so gelebt wie ich und niemand kannte die Dinge in ebender Zusammen­setzung, die für meine Existenz charakteristisch war. Mir schien, als könnten mein Glücksempfinden und meine Auffassung von Glück nicht so umfassend sein, wenn in meiner Lebensgeschichte nur ein winziges Detail fehlte. Mir schien alles so vollkommen unbezweifelbar wie glei­chermaßen unwahrscheinlich zu sein.

1948      177 Seiten

 Wikipedia-Artikel über Gaito Gasdanow

 Leseprobe und weitere Infos beim Hanser-Verlag

 traui hat die Handlungslinien kurz zusammengefasst

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