Rainer Wieczorek: Zweite Stimme
Die Frau ist gestorben, Tochter Paula studiert im fernen Kiel die „Zukunft der Arbeit“, Wilhelm Baumeister lebt allein im jetzt zu großen Haus am Odenwald. Er war Schriftsetzer, ein Beruf, der sich von der Linotype über den Lichtsatz bis zur Computerisierung stark verändert hat und nun fast überflüssig ist. Wie Baumeister.
Eher zufällig trifft er auf den Künstler Richard Skala aus einem Nachbardorf. Skala ist das, was man einen Konzeptkünstler nennen könnte; seine Werke vergehen im Entstehen, zurück bleibt die Idee. Er bezeichnet sich als Spaziergangswissenschaftler.
Skala öffnete die Lederbänder und nahm den Glaskolben heraus.
2000 ml stand auf der Flasche. 2000 Milliliter, aber man sah keinen Inhalt. Skala hielt ihm eine Reihe von Fotos hin, die ihn zeigten, wie er, mit weißem Kittel bekleidet, in einer Außenküche auf einem Zweiplattenherd Siegellack zum Schmelzen bringt, die bereits versiegelte Flasche ein zweites Mal dieser Prozedur unterzieht und sie abschließend mit einem Stempel prägt, der eine in einem Quadrat eingeschriebene Wolke zeigt.
Baumeister nickte. Bedächtig entfaltete er die topografische Karte, ein schottisches Exemplar, das unter anderem den bekannten Loch Lomond zeigte. Mit Bleistift war eine Route eingezeichnet, Hinweg, Rückweg; in der Nähe eines hohen Berges war der Entnahmeort angekreuzt und mit einer Wolke versehen. Baumeister nahm das andere Blatt zur Hand und las, was Skala eingetragen hatte. Bei dem Berg handelte es sich augenscheinlich um den Ben Lomond; in 345 Metern Höhe herrschten bei einem Luftdruck von 974 Hektopascal 5,5 °C Außentemperatur bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 91%. Die Entnahme (»Time of Sampling«) fand zwischen 12.58 p.m. und 12.59 p.m. statt.
»Und was war da entnommen worden?«
Skala sah ihn spöttisch an: Konnte es wirklich so lange dauern, bis bei Baumeister der Groschen fiel? 2000 ml einer schottischen Wolke waren hier auf Flasche gezogen worden, ein minimaler Eingriff, wie Skala versicherte.
Weiß war die Wolke gewesen, auch orangefarben, mit leichten Grautönen, folgte Baumeister den Eintragungen auf dem Formular, sie roch wie Sommergras, war weiblichen Geschlechts und gehörte – jetzt oder damals? – der Glasgow School of Art. (…)
»Zur Vollständigkeit sei angemerkt, dass zu einem cloud-walk-kit auch noch der bei der Wanderung benutzte Spazierstock« … »der Firma james Smith & Sons« … »gehört« … »eine Spezialanfertigung«, fielen sie sich gegenseitig ins Wort: Skala lächelte anerkennend und fuhr fort, »den ich aus Platzgründen getrennt von den Wolkenkisten lagere«. Jetzt öffnete Skala die beiden unteren Schubladen einer zweiten Kommode, die bis zum Rand mit Spazierstöcken gefüllt waren, mit zuordnenden Zetteln versehen.
Baumeister hat die Beschäftigung für seinen Ruhestand gefunden. Er bietet Skala einen Teil seines Hauses, einen verglasten Anbau, als Lager für seine cloud-walk-kits an und macht sich daran, Skalas “Werke” akribisch zu archivieren. Paula hilft ihm bei der Anschaffung eines Computers und bei dessen Bedienung. Später führt Skala ein neues Projekt durch, die Klangtransformation einer Landschaft. Mit aufwändiger Technik sammelt er Naturgeräusche aus der Umgebung, verstärkt sie über ein Netz von Lautsprechern und bannt die Schallereignisse auf eine Langspielplatte, die er in Plasikfolie einschweißt. Die Aktion selbst dauert 72 Stunden.
Die Landschaft würde als akustischer Informationsträger dekonstruiert, meinte ein Besucher am zweiten Tag der Beschallung, und Baumeister schrieb sich diese Formulierung dezent auf; er wollte zu gegebener Zeit darüber nachdenken.
Nach dem Abendessen setzte sich Baumeister mit einer Flasche Spätburgunder auf die Außentreppe des Wohnhauses.
So viel stand fest: Skalas Kunst würde zukünftig nicht mehr archivierbar sein.
Er war das zweite, das dritte Mal von einer Entwicklung überrollt worden, auf die er nicht den mindesten Einfluss gehabt hatte, so ist das, Paula, dachte er, wir machen unsere Pläne, treffen unsere Entscheidungen, arbeiten so sorgfältig, wie es geht, und dann geschieht alles, als gehörten wir nicht dazu.
Rainer Wieczoreks “Künstlernovelle” lässt den Leser nicht nur über postmoderne Kunst nachdenken, sondern auch über den Sinn von Beschäftigungen, Berufen, die Frage, ob das Alter mehr bieten muss als den Erhalt des Hauses und die Ernte von Tomaten und Mirabellen. Es geht um “Nützlichkeit und Verwertbarkeit”. In nüchterner Sprache schreibt er über die bedeutsamen Ausuferungen des Alltags und des Lebens. Die Personen sind alle sehr sympathisch, auch der Künstler. Das verleiht der Novelle einen Hauch von vormoderner Humanität und Leichtigkeit. Für Jochen Schimmang (taz) ist “Zweite Stimme” die “schönste Entdeckung dieses Bücherherbstes” 2009.
2009 138 Seiten
![]() |
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar