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Patricia Görg: Handbuch der Erfolglosen
Das „Handbuch der Erfolglosen“ von Patricia Görg ist keine Anleitung zum Misserfolg, sondern eine Art Almanach, hier „Jahrgang zweitausendundelf“. Görg bereitet für jede Kalenderwoche (KW) Meldungen aus dem Zeitgeschehen auf und stellt kurze Skizzen daneben, deren Zusammenhang mit den Nachrichten manchmal ersichtlich, manchmal eher assoziativ ist. Die Handelnden der Geschichten sind nicht prominent, sondern gehören meist den Rand- und Zwischenbereichen von Kunst, Wissenschaft und Medien an. Erfolg im populären Sinn haben sie nicht, sie sind Eigensinnige und damit oft Eigenbrötler, Unverstandene. Hirnforscher, Videokünstler, Sammler, Selbstbespiegler. Das kann interessant sein, daraus entsteht aber keine Chronik wie Florian Illies’ „1913“, das Vergnügen beim Lesen entsteht auf intellektueller Ebene. Patricia Görg behandelt ihre Fundstücke mit geschliffenem Blick und kluger Distanz. Alexander Kluge hat Ähnliches in der Welt gefunden und gebündelt. Görgs „Fallgeschichten“ erzählen „vom Webmuster der Ereignisse, von wiederkehrenden Motiven auf dem Teppich, über dessen Falten wir stolpern“. „Schrecken aus der Comédie humaine“ (Görg)
KW 50
Amerika verliert Drohnen. Iranische Revolutionsgardisten posieren vor einer Waffe, die ihrem Land vom Himmel in die Hände gefallen ist. Das Aufklärungsfluggerät gibt gezwungenermaßen seinen Fledermausrumpf preis, teilweise bedeckt von iranischen Bannern, sendet keine Daten mehr, sondern blickt stumpf aus seiner Gefangenschaft.
Eine Kollegin, die in Erprobung befindliche Superdrohne Falcon HTV-2, die 22-fach schneller als der Schall fliegt, verschwand unlängst bei einem Testflug einfach von den Radarschirmen. Spaßvögel der Internet-Community bescheinigen ihr einen Bremsweg von 40 000 Kilometern.
Jacques Chirac, ehemaliger französischer Staatspräsident, verliert einen Prozess, der gegen ihn geführt wird wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder, und wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Der Schuldspruch fällt in seiner Abwesenheit.
Er soll an Demenz erkrankt sein, kann sich also vielleicht nicht genau erinnern.
THE BOSTON VISIONARY CELL ist die Einsiedelei, in der Paul Laffoleys Kopf aufeine Tischplatte voller Bücher sinkt. Wie in einer Asservatenkammer stapeln sich Schriften, Schaubilder, Papierrollen, Modellbauten, Holzlatten und Kartons dicht um ihn herum in tiefen, deckenhohen Regalen. Dazwischen Halogenstrahler. Kein Tageslicht findet Einlass in die Einzimmerhöhle, in die Laffoley sich achtunddreißig Jahre lang zurückzieht, um über dem Weltwissen zu brüten. Sein Kopf, ein perfekt geschorenes Ei, liegt auf seiner Rechten, während die linke, kräftige Hand in einem aufgeschlagenen Bildband afrikanische Möbel berührt. Zu erkennen sind ferner der TitelAtlantis sowie eine gezeichnete Spirale mit saugender weißer Leere in ihrer Mitte. Paul Laffoley schläft sicher nicht. Er ist ein Hysteriker der Systematik, und zwar einer von jenen coolen Hysterikern mit unglaublich viel Sitzfleisch, die den Dingen bis auf den Abgrund nachgehen.
Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts produziert er meist quadratische, großformatige Öl-Acrylbilder, an denen er bis zu zehn Jahre lang arbeitet. Sie ähneln sowohl Mandalas als auch Diagrammen als auch schematischen, farbigen Betriebsanleitungen. Wesentlich in ihnen sind die Beschriftungen und Symbole, die manchmal bildbeherrschend werden. Immer geht es um die letzten Dinge: Zeit, Raum, Energie, Bewusstsein, Wandel.
Am unteren Rand der Gemälde zählt Laffoley jeweils die Lehrmeister seiner komplizierten Systeme auf. Von Plato über Teilhard de Chardin bis Alfred Jarry versammelt sich dort eine krause, muntere Gesellschaft, und der Maler gewinnt Züge eines Abendschülers, der seinen Stoff im Rahmen einer Lernzielkontrolle präsentiert, aufzeichnend, was er bislang begriffen zu haben glaubt vom Weltbildgetriebe und dessen Urkräften. Optisch erreicht seine Akribie die Schönheit von Kaleidoskopbildern. Gedanklich werden sie vorbereitet durch ein Journal, das Laffoley zwei Jahre lang führt und »The Visions of History« nennt. Als eine Art Frontispiz ist ihm die Kopie eines berühmten Kupferstichs von Claude-Nicolas Ledoux vorangestellt, auf dem in der Pupille eines gemeißelten Auges sich ein großer Theaterzuschauerraum spiegelt. In »The Visions of History« erklärt Laffoley die linearen und zyklischen Zeitvorstellungen westlicher und östlicher Kulturen und wie sie sich in vierdimensionalen Strukturen verbinden lassen.
Als ich mich in der Ausstellung mit Bildern Laffoleys über die Vitrine beuge, in der einige Originalblätter jenes Journals ausliegen, ruft der Aufseher sofort: »Nicht aufstützen! « Laffoleys Kopf sank wahrscheinlich wieder auf die Tischplatte, als er diese Zusammenschau beendet hatte. Rings um ihn türmten sich die Erkenntnisse, wie auf dem Foto aus der »Boston Visionary Cell« zu sehen.
Ich könnte wetten, dass irgendwo in dem Wust auch ein Faksimile des Voynich-Manuskripts liegt, des unentzifferbarsten Buchs der Erde, an dem sich die Entschlüsselungsprofis schon seit Jahrhunderten die Zähne ausbeißen. Zwar ist diese Handschrift illuminiert von Gemälden, auf denen Phantasiepflanzen, nackte Frauen beim Baden in grünen Gewässern und Gestirnkonstellationen auftauchen, aber der Text ist vollkommen hermetisch, abgefasst in unbekannten Schriftzeichen. Interessanterweise führt Paul Laffoleys wie schablonengezeichnete Deutlichkeit an genau den gleichen Punkt der Verrätselung.
In beiden Fällen wird dem Betrachter schwarz vor Augen, wenn er zu verstehen sucht, wobei die Energie, die in jene Werke gesteckt wurde, wohl bei beiden zur Klärung dienen sollte. Hingebungsvoll malt Laffoley Spiralen, Hexagramme und Periodensysteme des höheren Wissens.
Unschwer zu erraten, dass der Kunstbetrieb ihn nicht an seine Brüste drückt, sondern am zerschlissenen Rocksaum mitschleift wie aufgewischten Sternenstaub. Laffoley ist aber garantiert viel zu beschäftigt, um zu bemerken, ob sich außerhalb seiner Klause etwas tut. Er hat Wichtigeres zu visualisieren. Genüsslich rundet der Katalog seiner allerersten Einzelausstellung in der Alten Welt das Muster der Heiligenlegende ab: Er soll mit sechs Monaten ein einziges Wort, nämlich »Konstantinopel«, gesprochen haben, verstummte dann bis ins vierte Jahr, leidet unter dem Asperger-Syndrom, und 1992 wurde in seinem Kopf ein Metallstück entdeckt, das er für einen von Außerirdischen eingepflanzten Chip hält. Der Titel eins seiner Bilder lautet: The House of the Self. Beschriftung im oberen Drittel: »The Vibration of the Universe varies between Being and Nothingness «.
Patricia Görg liest aus dem “Handbuch der Erfolglosen”
Homepage von Patricia Görg (mit vielen Essays aus der SZ)
3SAT-Gespräch mit Patricia Görg von der Buchmesse Leipzig 2012 (0:16)
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