Nachrichten vom Höllenhund


Livaneli
1. Juli 2013, 18:36
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Zülfü Livaneli: Serenade für Nadja

livanelinadjaZülfü Livaneli steht für Völkerverständigung. Für Werte der Aufklärung, für Misstrauen gegenüber der Macht und den Mächtigen. Für Rechte von Mädchen und Frauen. Er sucht seine Themen und Belege in der Geschichte und in der Gegenwart der Türkei.

Als Erzählerin wählt er in “Serenade für Nadja” die 36-jährige Maya Duran, die an der Universität Istanbul für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Ihre aktuelle Aufgabe ist es, Maximilian Wagner zu betreuen, einen deutschstämmigen amerikanischen Professor, der nach Jahrzehnten noch einmal Istanbul und seine Universität besuchen will, wo er, wie viele andere deutsche Wissenschaftler, während der Nazizeit Zuflucht fand.

Maya ist von dem 87-jährigen Mann und seiner Geschichte fasziniert. Die Begenung mit “Max” hat auch ihr “Leben von Grund auf verändert”. Mit Professor Wagner macht sie einen Ausflug nach Şile ans Schwarze Meer. Sie erfährt, dass Wagner dort seine Frau verloren hat, Nadja, eine Jüdin, die bei der Flucht nach Paris von den Nazis aus dem Zug geholt und nach Rumänien transportiert wurde. Wagner setzt alles in Bewegung, um Nadja aufzuspüren und ihr zu ermöglichen, nach Istanbul zu gelangen. Selbst den vatikanischen Diplomaten Roncalli, den späteren Papst Johannes XXIII., kann er involvieren. Nadja gelingt es, auf ein Flüchtlingsschiff zu kommen, die Struma, die aber von der türkischen Regierung keine Erlaubnis erhält, die Juden an Land zu lassen. Auch die Briten verweigern die Aufnahme der Passagiere in ihrem Mandatsgebiet Palästina. Schließlich wird die Struma von den Russen torpediert, alle Menschen sterben. Max Wagner steht am Ufer und spielt auf seiner Geige die “Serenade für Nadja”.

Mehr brauchte ich nicht mehr zu wissen. Es war ein gemein­schaftliches Verbrechen begangen worden. Großbritannien, Ru­mänien, Deutschland, die Türkei und die Sowjetunion hatten sich zusammengetan und 769 unschuldige Menschen in den Tod geschickt. Und darüber sollte nach Möglichkeit für alle Zeiten geschwiegen werden. Wie hatte Maximilian gesagt: »Es gibt keine unschuldige Regierung.«

“Die Geschichte von Maximilian und Nadja” steht als sachlicher  – aber doch anrührender – Bericht im Zentrum des Romans. Mit dieser Geschichte verknüpft Maya ihre eigene Biographie. Sie recherchiert die Ereignisse und findet dabei auch heraus, dass ihre beiden Großmütter vom türkischen Staat verfolgt und getötet wurden, weil sie tatarischer bzw. armenischer Abstammung waren.

Drei Frauen, und drei Namen.
Maya war zu Ayse geworden, Mari zu Semahat, und Nadja zu Katharina.
Drei Frauen, die nicht einmal den Namen benutzen durften, den sie bei der Geburt bekommen hatten.
Am schlimmsten hatte es Nadja getroffen. Maya und Mari hatten Kinder und Enkelkinder bekommen und ihre Geschichte schließlich weitererzählen können.
Die arme Nadja dagegen war zusammen mit ihrer Geschichte in den dunklen Wassern des Schwarzen Meeres versunken. Ich aber würde diese Geschichte dort hervorholen und sie der ganzen Welt erzählen.
Das war nun meine Aufgabe.

In ihrem Alltag muss sich Maya mit ihrem Sohn Kerem plagen, der seine ganze Zeit mit Computerspielen verbringt, dann aber auch für nützliche Internetrecherchen gewonnen werden kann. Mayas Bruder ist Nationalist und General des türkischen Militärs, ihr geschiedener Mann Ahmet erweist sich als schwach und ist ihr keine Hilfe bei der Erziehung des Sohnes, ihr Gelegenheitsfreund Tarık vermehrt zumindest Mayas Geld. Auch in der Universtität hat sie nicht nur Freunde.

Livaneli zeigt mit Maya Duran eine junge Frau mit ihren türkischen Wurzeln, die aber offen für die Welt ist und sich – stellvertretend nicht nur für die Frauen – selbst aufklärt und emanzipiert. Dieses Anliegen Livanelis scheint oft recht plakativ durch, doch sollte die Konstruktion durch die Absicht und durch damit potenziell gewonnene Leser legitimiert sein. Maya erklärt das Verfahren:

Und dann musste ich die Geschichte erzäh­len, musste sie aufschreiben. Nicht unbedingt in all ihren Details. Wo erforderlich, durfte ich sie etwas anders erzählen als der Pro­fessor. Die Geschichte eines einzelnen Menschen musste ich so erzählen wie die Geschichte aller Menschen.

Mein Gott! Ich schäme mich richtig, das hinzuschreiben. »Ob Sie mich wohl nach Hause fahren könnten?« Wie konnte ich dem Mann nur so schöntun! Meine Worte waren zwar nur genau so gemeint und nicht anders, aber dennoch. Aber was soll’s, ich schreibe einfach weiter, wie es mir in den Sinn kommt, ganz ohne Angst vor Missverständnissen. Schließlich bin ich keine Schrift­stellerin. Der Wert dieser Aufzeichnungen ergibt sich allein dar­aus, wie aufrichtig ich bin.

Zu Hause ließ ich mich in einen Sessel fallen. Aus meiner Ta­sche kramte ich das Aufnahmegerät hervor, das alles enthielt, was Max mir bis zum Morgen erzählt hatte. Wie ein kleiner Schatz lag es in der Hand.
Innerhalb weniger Tage hatte ich ungeheuer viel gelernt. Un­glaublich, was vor wenigen Generationen auf diesem Boden alles geschehen war. Dinge, die sich vor sechzig Jahren ereignet hatten, kamen mir nun ganz vertraut vor. Und dabei war noch so vieles zu entdecken. Doch sollte es mir auch gelingen, mir all die Informa­tionen, nach denen ich jetzt verlangte, tatsächlich zu beschaffen, so hätten sie für sich genommen keine Bedeutung, so viel war klar.
Was sollte es bringen, wenn ich wusste, was meine Großmüt­ter durchgemacht hatten oder was vor hundert, vor sechshundert Jahren alles geschehen war? Was hatte ich davon, wenn ich er­fuhr, was der Professor, was Nadja, was so manche andere Men­schen, die in der Erzählung des Professors vorgekommen waren, vor Jahr und Tag in dieser Stadt erlebt hatten? Eine Bedeutung erlangte das alles erst, wenn es sich zur Geschichte jener Men­schen formte.

Die am Flughafen Herumhetzenden, die gestressten Ver­kehrsteilnehmer, die dicken Frauen an der Uni, die Leute in den Geschäften, an ihnen allen konnte mich nur das eine interessie­ren: wiederum die Geschichten nämlich, die das Leben mit ih­nen schrieb.
Die Geschichte jedes einzelnen Menschen konnte uns so sehr interessieren wie das, was uns selber widerfuhr; sie musste ledig­lich in ihrer ureigenen Wirklichkeit erfasst werden. Denn war nicht jede Geschichte letztendlich die Geschichte der mensch­lichen Existenz? Und damit des ganzen Lebens? 

“Eine Serenade gab diesem epischen Werk seinen Titel, aber kompositorisch ist es eine Sinfonie, die sich wie ein Klassiker anhört.” (Achim Engelberg, NZZ)

2010         335 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Zülfü Livaneli – der türkische Theodorakis. Reflexe des SRF (28 Minuten-Audio)

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