Jane Gardam: Ein untadeliger Mann
War dieser Eddie viel in Fernost, Ollie? Oh – Ollie! « Sie hatte die Unterschrift unter der Nachricht gesehen und den Briefkopf dazu, denn der sparsame Filth brauchte immer noch sein altes Briefpapier aus der Kanzlei auf. »Da steht Sir Edward Feathers.«
»Ja. Das ist er. Cousin Ed. Alberner Name.« »Aber Oliver, Edward Feathers ist Old Filth.« »Wie bitte?«
»Oliver, Old Filth ist eine Legende. Unter Juristen. Ich dachte, der wäre schon ewig tot. Er war ein großartigerRechtsanwalt. Er hat gestottert.«
»Gestottert?«
»Oliver – das war Old Filth. Aus Hongkong. Er war ein großartiger Richter.«
Old Filth – Failed in London Try Hong Kong – im Englischen: Schmutz, Unrat – ist eine Ikone, aber seine Zeit ist abgelaufen. Ein lebendes Fossil, ein Coelacanth (Quastenflosser). Das British Empire ist nicht mehr, nur die Erinnerung leuchtet verblassend. Jetzt sitzt Eddie Feathers in den Donheads und wartet seine Zeit ab. Das Ende des Empire hatte ihn zur Rückkehr getrieben. “Das Jahr 1997 rückte näher.” Jane Gardam begleitet ihn bei seinen Erinnerungen. „Er war nicht sicher, ob das eine Erinnerung war oder die Erinnerung an eine Erinnerung.“ Er war ein Raj-Kind (British India oder British Raj war die Bezeichnung für das von 1858 bis 1947 als Kronkolonie unter direkter britischer Kolonialherrschaft stehende Territorium, das den gesamten indischen Subkontinent und Teile Hinterindiens umfasste.), ein Kind von Kolonialoffizieren, das aus Ostasien nach England oder Wales in eine Pflegefamilie geschickt wurde und dann in ein Internat kam. Beides prägte Edddie Feathers sein Leben lang, er stotterte, an seinen Vater hatte er keine Erinnerung, seine Mutter starb bei seiner Geburt. Kein Einzelschicksal.
Old Filth ist „ein untadeliger Mann“, aber, trotz seiner Meriten als Richter, ein wenig langweilig, steif, unbeholfen dem täglichen Leben gegenüber. Seine Frau Betty ist gestorben, er „sah Bettys buntes, altes Hinterteil aus dem Tulpenbeet ragen. Ihr wettergegerbtes Gesicht. »Hundert sind drin, hundert muss ich noch!«, hatte sie gerufen. »Ich möchte keinen Gin. Wollen wir das Mittagessen auslassen?« Dann war sie tot umgefallen.“. Feathers spricht noch immer mit ihr, er hat sonst niemanden. Die Namen seiner Dienstboten will er sich nicht merken, einige Jugendbekannte leben in anderen Teilen Englands, der Mann, der ins Nachbarhaus einzieht, ist ausgerechnet sein „Rivale“ Veneering. „Für Old Filth verkörperte Terry Veneering all das, was die britische Herrschaft dieser himmlischen Kolonie falsch machte – er war ein Emporkömmling, arrogant, aufbrausend, laut, zynisch und gewöhnlich.” Für Betty stellt sich das anders dar, aber “sie hat nie ein Wort darüber verloren”. “Betty kam und hat all die Jahre von Dir abgestreift; von außen sah es aus wie eine perfekte Ehe. Sie hat nie mehr gewollt, als Du geben konntest. Leidenschaft hat sie von anderen bekommen. Du warst ein Heiliger in Sachen Veneering. Eine Alabasterwand. Ihr habt einander gerettet. Du und Betty. Ich ahne, dass ihr nie darüber gesprochen habt.” Darüber schreibt Gardam erst im Nachfolgeband: “Eine treue Frau”. Was im Leben bleibt, ist das Lunch im White Hart in Salisbury, dafür geziemt es sich, den äußeren Schein zu wahren, seine „makellose Unterwäsche …, seine Unterhemden und das, was er immer noch »Schlüpfer« nannte; seine gelben Baumwollsocken von Harrods, zwanzig Jahre alt; ein paar Seidenpyjamas; zwei leichte Anzüge und ein Dinnerjackett (denn man kann nie wissen, wo man eingeladen wird).” Auch mit 80 darf man sich keinen Kontrollverlust erlauben. „Diese tadellose Selbstbeherrschtheit“ bei gleichzeitiger Überforderung. British Upper-Class. Steinreich. Der „schrullige Restbestand des britischen Empire“ (Susanne Mayer, ZEIT).
„Fakten, Erinnerungen, der Schmerz des Lebens – oder chaotischer Lebensumstände – müssen vergessen werden. Filth hatte Menschen zum Tode verurteilt. Hatte miterlebt, wie Unschuldige verurteilt wurden. Als Kronanwalt schätzte er, dass die Hälfte seiner Fälle zu falschen Urteilen geführt hatte. In Hongkong lebten die Richter in einer Enklave von Palästen hinter Tag und Nacht bewachten Stahltoren.“
Feathers entschließt sich, noch einmal die überlebenden Bekannten seiner Jugend aufzusuchen, um so vielleicht ein Stück seiner selbst zu finden. Es gab ein kurzes Aufeinandertreffen mit Queen Mary, die ihm sogar London zeigen wollte, er überlegte, in die Army einzutreten, um gegen die Deutschen zu kämpfen, aber Feathers ist kein politisch denkender Mann. Anstattdessen bricht er nach Singapur auf, wo er aber kriegs- und krankheitsbedingt nicht ankommt. Man erfährt im Roman Geschichte nur als Hintergrundrauschen, das ist nicht Jane Gardams Anliegen und das sehe ich durchaus als Defizit. Die Schönheit des Buches liegt in der genauen Beobachtung und Beschreibung, der Nähe zu den Personen bei gleichzeitiger leiser ironischer Distanz. Der lebensuntüchtige Weltmann Old Filth, wie er in seiner Villa vor sich hin altert und das nicht wahrhaben kann, wie er aus der vergangenen Zeit hereinragt in die jetzige, wo es Handy gibt und auf den Straßen Mittelstreifen.
»Und meine Generation ist bald tot?«, fragte Filth.
»So habe ich das nicht gemeint – dass Ihre Generation keinen Einfluss mehr hätte. Keineswegs. Ich persönlich respektiere Ihre Generation sehr. Ich respektiere ihr Pflichtgefühl und ihre Gesetzestreue und ihre lebenslange Hingabe. Aber wir leben heute so lang, dass genug Zeit ist für drei oder vier Berufe und Partnerschaften. Wir haben alle möglichen Hilfsmittel … «
»… und sexuell übertragbare Krankheiten«, sagte Filth. »Ich verstehe von beidem nicht viel.«
»Sie sehen uns ziemlich negativ, oder?«, fragte sie. »Egoistisch? Alle unter, sagen wir mal, vierzig?«
»Im Moment denke ich das über alle, die unter hundert sind, aber das geht sicher vorbei. Meine Frau hätte das nicht geduldet.«
»Tut mir leid, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Ist das lange her? Ich hätte sie gern kennengelernt«, sagte Vanessa freundlicherweise über die unbekannte Betty: bestimmt eine Marmeladenkocherin, Bridgespielerin, zweifellos Kirchenblumendekorateurin, die den Urlaub mit den Enkelkindern verbrachte. »Haben Sie viele Kinder?«
»Wir haben gar keine Kinder.«
Sollte sie sagen, dass es ihr leidtat? Es tat ihr wirklich leid. Für ihn. Bestimmt war die Frau …
»Das tut mir leid«, sagte sie.
»Wir wollten keine. Man muss sich gut überlegen, ob man Kinder in die Welt setzen will. Betty und ich waren sogenannte Empire-Waisen. Wir wurden mit vier oder fünf Jahren in Pflegefamilien gegeben und haben unsere Eltern dann mindestens vier Jahre nicht gesehen. Wir hatten Pech. Bettys Pflegeeltern mochten sie nicht, und meine – mein Vater hatte nicht auf Ratschläge gehört – wurden ausgewählt, weil sie billig waren. Wenn man als Kind nicht geliebt wird, kann man später kein Kind lieben. Man muss das erfahren haben. Man kann jemandem durch Unwissenheit Schmerzen zufügen. Ich wurde, nachdem ich viereinhalb war, nicht mehr geliebt. Stellen Sie sich vor, da Eltern zu sein.«
Feathers plötzlich erwachte Geschäftigkeit vor dem Tod erschließt sich nicht ganz, auch hab ich manche der jetzt für ihn wichtigen Personen für Nebenfiguren gehalten und sie nicht in den Kontext verbracht. Auch viele der leisen Andeutungen werden erst beim zweiten Lesen offenkundig. Ein feiner Roman.
2004 350 Seiten
Rezension von Franziska Augstein in der SZ
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Jane Gardam: Eine treue Frau
Jane Gardam hat in „Ein untadeliger Mann“ über Edward „Eddie“ Feathers (Old Filth) geschrieben, seine Frau Betty kam kaum in Erzählungen vor und wurde für Eddie sichtbar eigentlich erst dann, als sie starb. Im Folgeband gibt Gardam auch Betty den ihr zustehenden Raum, sie ist als Person eigentlich faszieinerender als der steife Eddie. Das britische Weltreich war ausgedehnt und Mann und Frau konnten sich leicht in zwei verschiedenen Winkeln aufhalten, etwa in Singapur oder Hongkong und auf der anderen Seite der Erde in London oder in den Donheads. Für beide ist das nicht schlimm, denn Eddie ist fast nur an seiner Arbeit als Anwalt interessiert, für seine Frau hat er selten einen Blick. Betty dagegen hat es sich in den Kopf gesetzt, ihn zu heiraten, aber die liebe ihres Lebens ist ein anderer, Eddies Konkurrent Terry Veneering. Eddie Feathers hat anderes zu tun, er merkt nichts.
In der Ecke des Raumes, in der es am lautesten war, löste sich der Flachsblonde, brüllend vor Lachen, aus seiner Gruppe. Er trug Khakishorts und ein Khakihemd, was vielleicht nicht wirklich exzentrisch wirkte, aber doch wie ein modisches Statement und sehr stilbewusst. »Nein, nicht in die Richtung«, befahl Edward, und der Mann mit dem leuchtenden Haar rief- »Oh Gott! Old Filth!« Dann sah er Elizabeth in Baumwolle und Perlen und blieb stehen.
»Mein Name ist Veneering«, sagte er. »Terry Veneering.« Seine Augen waren leuchtend hellblau.
Elizabeth dachte: Und es ist genau eine Stunde zu spät.
In der ersten Hälfte von “Eine treue Frau” zeigt Gardam mit feinem Gespür für die Ironien des Schicksals das Auseinanderfallen von Tun-Müssen und tun-Wollen. Die lebenslustige junge Betty ist bereit, sich in ihr vorgegebenes Frauenschicksal zu fügen, will aber die Eigenständigkeit nicht ganz aufgeben. Das geht, weil Eddie in Liebesdingen der tumbe Mann bleibt und Betty ihre Nischen auslebt. Jane Gardam hat den leisen “englischen” Humor, der sich auch schon im (deutschen) Titel andeutet. Darin liegt auch der Hauptreiz beim Lesen, wenn man in die Gedanken von Betty schlüpft und weiß, dass man in ihrer Gewitztheit einen Kumpel hat und den Mann austricksen kann. Sie ist sich aber auch bewusst, womit sie zu bezahlen hat. Die reale Welt spielt noch weniger eine Rolle als beim ersten Roman.
Der Deckenventilator eierte und war voller Fliegen. Auf den Betten lagen scharlachrote Satin-Tagesdecken aus den 1920ern mit hässlichen gelben Blumen in Stielstich. Sie hatten offenbar den Krieg überlebt. Die alten, hölzernen Fensterläden klapperten. Es roch nach den verrottenden Lilien im Hof. Betty war allein, ihre Freundin Lizzie war irgendwo unterwegs, Gott sei Dank. Betty hätte es grässlich gefunden, Edwards Brief nicht allein zu lesen. Was für eine schöne Handschrift. Eigentlich schade, dass er das Briefpapier der Kanzlei benutzt hatte. Sie überlegte, wie viele Entwürfe er wohl gemacht hatte. Wie viele Abschriften. Er war mit Abschriften verheiratet. Das hier musste aufbewahrt werden.
Genau das würde sie tun. Sie würde den Brief für alle Zeiten aufbewahren. Ihre Enkelkinder würden ihn einem Museum vermachen, als Erinnerung an die lustigen alten Toten.
Eddie Feathers? Jesses! Er klang schon ein bisschen kurios. (Könntest Du Dir eine Eheschließung mit mir vorstellen, Elizabeth?) Nicht gerade Romeo. Eher Mr Knightley, wobei Mr Knightley immer mit einem Fragezeichen versehen war. Um die vierzig und immer allein nach London. Kann mir doch keiner erzählen, dass Emma die Erste war. Ich schweife ab.Eigentlich wünsche ich mir wirklich, Eddie wäre nicht so perfekt. Aber natürlich heirate ich ihn. Es spricht überhaupt nichts dagegen.
Sie küsste den Brief und steckte ihn sich in die Bluse.
Kapitel vier des Romans beginnt auf Seite 193 und ist überschrieben mit „Leben nach dem Tod“. War das Leben der jungen Betty ausführlich beschreiben, überspringt Gardam hier Jahrzehnte. Der „Tod“ ist natürlich auch der „Tod“ der Liebe und der Hoffnungen. Was von Betty und von „ihrem“ Eddie“ überbleibt, hat man schon in „Ein untadeliger Mann“ gelesen. Was es bedeutet, dass im Alter eine neuer Nachbar in den Donheads einzieht, versteht man nach „Eine treue Frau“ bessser. Ein gewitztes Ende.
2009 270 Seiten
Jane Gardam: Letzte Freunde
Ein Nachzügler. Die Geschichten von Old Filth und seiner Frau Betty sind erzählt, es bleiben aber Randfiguren, die in den Romanen etwas im Grauen bleiben. Terry Veneering, der „Feind“ von Eddie Feathers, hatte ein eigenes Schicksal, über das amn im dritten Roman mehr erfährt, und Fiscal-Smith taucht auf, von dem die meisten nicht mal den Vornamen wissen. Man fragt sich, ob man das noch wissen muss, doch finden sich abseits dieser Personen ein paar feine Beobachtungen von Jane Gardam, die leise englische Ironie. A pinch of scorn, feiner Spott, Humor der Alten.
»Sie – Dulcie, Sie schreiben doch wohl nicht immer noch an Fiscal-Smith?« (…) Er hat sich sein ganzes Leben lang nach Gesellschaft gesehnt, aber niemand wollte ihn, weil er, nun ja, einfach so grässlich ist. So erbärmlich eingebildet. Schlau natürlich. Und effizient. Aber verschlossen und undurchsichtig. Aber … ach, Anna, er war halt immer da.
Dulcie beschloss, heute und wahrscheinlich noch ein paar Tage lang nichts zu tun. (…) Genau wie Fiscal-Smith hatte auch sie die Zeit überzogen, die sie willkommen gewesen war an dem Ort, den sie als ihr Zuhause empfand.
»Das ist doch albern, Dulcie, wir sind alle über achtzig und Feministinnen.« (…) »Dass wir Frauen sind, hat ja nichts damit zu tun, dass wir jetzt Windeln tragen und von einer Drogenabhängigen versorgt werden«, sagte Olga. »Das geht Männern genauso. Kein familiärer Rückhalt, das ist das Problem. Die arme, alte Dulcie ist das beste Beispiel. Kaum zur Schule gegangen. Vom Sandkasten weg geheiratet. Dumm wie Brot. Wie ein Schulmädchen. In so einem Hirn kann auch im Alter nicht viel kaputtgehen.«
Ich kenne ein paar sehr nette Witwen und Witwer, die es hinbekommen. Sehr gut sogar. Patsy zum Beispiel, die den Tisch immer für alle ihre toten Verwandten mitdeckt. Sie wirkt ganz glücklich. Sie hat diesen komischen Sohn mittleren Alters, der immer alles wieder wegräumt. Die mit moderneren Gehirnen haben wirklich Glück.
Manchmal, dachte er, sollte man seine alten Freunde noch mal gründlich und unnachgiebig betrachten. Wie die alten Kleider im Schrank: gelegentlich muss man sie auf Motten durchsehen. Und sie dann gegebenenfalls wegwerfen und vergessen. Genau.
2013 240 Seiten
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