Nachrichten vom Höllenhund


Wells
5. Dezember 2016, 19:04
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Benedict Wells:
Vom Ende der Einsamkeit

wells2Eine tiefe Geborgenheit überkommt mich bei diesem Anblick, zum ersten Mal empfinde ich den Gleichmut des Alls als tröstend.“ – Läse man das Buch von hinten, müsste man sofort wieder aufhören angesichts dieser Schwülstigkeit. Ich habe zuerst auf Trakl oder Karl May getippt, doch Ähnliches findet sich auch heute, z.B. auf religiösen Seiten („Ich fühle immer eine tiefe Geborgenheit und Freude, die mich stets begleitet.“ – ruhegebet.com) und bei schoener-wohnen.de: „Gemeinsam mit Freunden und der Familie am Kamin sitzen – ein Augenblick vollkommener Sicherheit und Geborgenheit.“ Ich hab’ mich dann vorne im Buch vergewissert, doch als Erscheinungsjahr ist tatsächlich 2016 angegeben.

Ich schnitt eine Banane in zwei Hälften, nahm den Lap­top und setzte mich an den Schreibtisch ihr gegenüber. Wir aßen die Banane und tippten schweigend, ab und zu warfen wir einander kurze Blicke zu. In solchen Momenten, wenn Luise und Vincent nebenan schliefen, fühlte ich mich ge­borgen wie seit meiner Kindheit nicht mehr.
Mir kam der furchtlose, selbstbewusste Junge in den Sinn, der ich damals gewesen war. Er war beim Tod mei­ner Eltern jedoch nicht stark genug gewesen und einem an­deren Teil meiner Persönlichkeit gewichen. Ich vermisste ihn nicht. Vermisste nur manchmal die Ausgelassenheit, die mich als Zehnjährigen oft überkommen hatte. Würde es in meinem Leben wohl je ein Ereignis geben, das mich noch mal in diese rauschhafte, alberne Unbeschwertheit katapul­tierte, und sei es auch nur kurz?

Jules Moreau erzählt von seinem Leben. Er hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, er und seine älteren Geschwister Liz und Marty kommen ins Internat. Seine Geschwister sieht er dort kaum, sie entfremden sich – Jules weiß nicht, “ob ich von der Fremdheit erzählen sollte, die sich zwischen meine Ge­schwister und mich geschlichen hatte” – doch sie wissen, dass sie Kinder einer Familie sind. Marty ist der Techniker, Liz reizt ihre Emotionalität aus, Jules entdeckt die Schwermut in sich. Das erkennt auch Alva, die sich in der Schule unerwartet neben ihn setzt: “Jules, du bist ein Kind von entsetzlicher Traurigkeit.” Alva, die Seelenverwandte, lässt ihn nicht mehr los, auch, als sie sich nach der Schule von ihm entfernt. Sie heiratet einen viel älteren russischen Schriftsteller, Jules besucht das Paar in ihrem Schweizer Chalet. Ob ich so was glauben soll oder nicht: Er nistet sich in halbes Jahr  ein, Romanow wird dement und erschießt sich, Jules tut sich wieder mit Alva zusammen. Sie bekommen zwei Kinder und sind endlich die glückliche Familie, Jules findet die ersehnte Heimat, als Alva, erst in den Vierzigern, an Krebs erkrankt und stirbt. Die Geschwister fangen Jules auf, endlich, endlich fühlt er sich geborgen.

Benedict Wells erzählt eine Familiengeschichte voller Traurigkeit. Er erzählt sie stilistisch routiniert, er erzählt sie zum Heulen schön. Über uns der Himmel und „in uns“ die Einsamkeit. “Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden.” Was mich irritiert, sind diese Sätze, die man von einem, der 2014 gerade 30 geworden ist, nicht hören will. Sätze, die zu einem “Werther” passen, in eine Neoromantik, Sätze, die heute deplatziert und verstörend wirken. Die Einsichten vortäuschen. Immer wieder “überkommt” es Jules, “durchweht” es ihn, “zieht” es ihn.

Ein kühler Lufthauch streifte mich, der Geruch von feuchtem Laub wehte mir vom Hof entgegen. Ich trank ein paar Schlucke und spürte die Ruhe der Nacht auf mich einströmen, und plötzlich überkam mich ein Gefühl von fast wohliger Wehmut.

Und dann

dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgestellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerun­gen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu ver­weilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts.

Im Roman wird das Metaphysische nicht thematisiert, Religiosität spielt (scheinbar?) keine Rolle, er zitiert Rilke (Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen, lachenden Munds.Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.), aber es tröstet kein Rilke’scher  „Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“ .Wells erlaubt sich auch keine Spur von Ironie – und auch keine Spur von Welt außerhalb von Ich und Natur und Familie. Gesellschaft kommt nicht vor, keine Politik, obwohl die Handlung bis 2014 datiert ist. Der tiefe Ernst kommt mir immer wieder wie Satire vor.

Was Jules beschäftigt, ist nur er selbst, sein inneres Ich, der Selbstzweifel: “Tief in mir spürte ich, dass das alles ohnehin nicht mein wahres Leben war. Dass ich es noch immer mit jenem, in dem meine Eltern noch lebten, tauschen würde. Dieser Gedanke kam mir immer wieder, er war wie ein in meine Seele ge­webter Fluch. (…) In meinem Innern ahnte ich, dass ich vom Weg abgekommen war. Das Pro­blem war nur, dass ich nicht wusste, wann und wo. Ich wusste nicht mal mehr, von welchem Weg.“ Bringt die Philosophie Erleichterung?

“Hm … Kierkegaard sagt dazu: Das Selbst muss gebro­chen werden, um Selbst zu werden.”
“Und das heißt?”
Sie krauste die Stirn. “Nun ja, man kommt auf die Welt und wird geprägt von seiner Umwelt, den Eltern, von Schicksalsschlägen, Bildung und zufälligen Erfahrungen. Irgendwann sagt man dann wie selbstverständlich: ‘Ich bin so und so’, meint damit aber nur seine Oberfläche, sein ers­tes Ich.” Sie setzte sich auf meinen Tisch. “Um sein wahres Ich zu finden, ist es notwendig, alles in Frage zu stellen, was man bei der Geburt vorgefunden hat. Manches davon auch zu verlieren, denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirk­lich zu einem gehört … Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt.”

Erleuchtung oder Geschwafel? Metaphysik oder Groschenroman? Schlimm, wenn in unserer Zeit solche Romane ausgezeichnet werden, denn sie bezeichnen auch unsere Zeit. Tiefe Innerlichkeit, altbacken und angestaubt, zum Weinen. Als Jules die Geschichte erzählt, ist er Mitte 40 und Vater, doch er weigert sich, erwachsen zu werden, bleibt larmoyant. “Was Psychologisierung betrifft, geht der Roman weit hinter die Errungenschaften modernen Erzählens zurück. Und die gelegentlichen Exkurse über das Wesen der Zeit haben hier nicht Thomas Mannsches Format, sondern eher das eines Paulo Coelho.“ (Jan Wiele, FAZ)

Allmählich treten erste Lichter aus der tiefer werdenden Dämmerung hervor, und ich denke an mein altes, vom Zufall zerschnittenes Leben in München, doch das Heimweh ist nur noch eine verblassende Narbe.

2016       355 Seiten

Benedict Wells liest aus „Vom Ende der Einsamkeit“ – Lesung von LovelyBooks.de
(1 Stunde) So jung, dass man ihm dieses altväterlich-epigonale Buch kaum zutrauen möchte.

4

Benedict Wells:
Die Wahrheit über das Lügen

wellswahrheitEine Geschichte heißt „Die Fliege“ und ist von 2017. Sie beginnt so:

Haben wir noch Limonade?«, rief er von wei­tem.
Sie wischte sich über die Stirn. Es war drückend heiß, und obwohl sie im Schatten saß, kam sie schon jetzt ins Schwitzen.
»Ja«, antwortete sie laut. (…)
Rauchend nahm er vor ihr Platz und füllte sein Glas. Obwohl die Ärzte ihm von Zucker abgeraten hatten, konnte er im Frankreichurlaub nicht auf ihre kühle selbstgemachte Zitronenlimonade ver­zichten.
»Willst du auch?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, schenkte er ihr ein, dann nahm er einen großen Schluck. Er trug eine elegante Sonnenbrille, die Haare noch nass vom Schwimmen im Pool.

Bald darauf:

Eine Fliege landete auf ihrem Arm, sie ver­scheuchte sie. Die Fliege flog weiter zu ihrem Li­monadenglas, auf dessen Strohhalm sie sich nun die Beine putzte.

Das ist einfach und verständlich geschrieben. Auf dem Cover zitiert der Diogenes-Verlag Kester Schlenz vom Stern aus Hamburg: „Mann, kann der Mann schreiben!” Ich ahne, dass da eine Beziehung ins “Schwitzen” gerät, dass sie “laut” antwortet, bedeutet nichts Versöhnliches und seine “elegante Sonnenbrille” macht ihn lächerlich und arrogant zugleich. Stil und Anlage sind “bar jeglicher Originalität, persönlichen Note; auf ein alltäglich gewordenes Muster festgelegt und deshalb Langeweile oder Überdruss erzeugend“ (Duden). So schreibt ein ambitionierter Abschlussschüler, ein Anfänger der Schreibwerkstatt. Pennälerprosa. Fehlt nur noch, dass er was über die Metaphorik gelernt hat.

Die Fliege …

»Ich mach das«, sagte er aufmunternd und griff nach der Zeitung.
Sie nickte nur und betrachtete wieder die Fliege, die noch immer verklebt war und nun zittrig ver­suchte, den Strohhalm hochzuklettern.
Er folgte ihren Blicken und entdeckte die Flie­ge ebenfalls. In Gedanken versunken, griff er nach dem Strohhalm. Mit dem ersten Stoß tunkte er die Fliege spielerisch wieder in die Limonade. Sie wehrte sich verzweifelt und zappelte, doch mit zwei weiteren, entschlosseneren Stößen des Stroh­halms hatte er sie ertränkt.

“Eines der größten Talente, die unser Land in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.« (nochmals Kester Schlenz vom Stern). Nein: Wells Stil ist “bieder, langweilig und ohne Reiz” (nochmals Duden), mit einem anderen Wort: hausbacken. Er hat keine Verve, kennt keine Ironie. Das zeigte sich auch schon bei seinem Roman “Vom Ende der Einsamkeit”. “Die Fliege” ist von 2017, also aktuell. Weist sie in die Zukunft? “Neben dem Glas lag das moderne Telefon, das sie kürzlich gekauft hatte und dessen noch ungewohnte Schnurlosigkeit kühn in die Zukunft wies.“ Nein: Das ist nicht einmal Gegenwart, das ist gestrig, das ist angestaubt. „Eine klassische Short Story in der Tradition Earnest Hemingways ist „Die Fliege“: Indem der Mann sie im Cocktailglas ertränkt, besiegelt er das Ende seiner Ehe.“ (Martin Ebel, SZ)

“Die Fliege” ist nicht die schlechteste der Erzählungen. In “Die Nacht der Bücher”unterhalten sich die Romane einer Bibliothek und werden belauscht. Bei Wells kommt aber nicht mehr als ein Name- und Titeldropping heraus. In “Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen” erzählt der Filmproduzent Adrian Brooks einem jungen Reporter davon, dass er bei einer Zeitreise ins Jahr 1973 erfahren habe, dass George Lucas der Erfinder von „Star Wars“ sei. Zeitreisen können was Reizvolles sein, wenn man mit dem Paradox spielt (wie etwa Stanislaw Lem). Da Wells aber die Phantasie abgeht, entsteht eine endlose Suada über ein letztlich uninteressantes Thema. In der „Wanderung“ besteigt ein Manager einen Gipfel und als er wieder zuhause ankommt, sind Jahre vergangen und Sohn und Tochter tot oder verzogen. In „Ping Pong“ spielen zwei aus rätselhaften Gründen eingesperrte Männer über Monate verbissen Tischtennis, als ginge es um Leben oder Tod. Bei solchen Geschichten ist schon die Idee beschränkt, auch wenn es Wells möglicherweise immer wieder um nicht verarbeitete Familienabgründe geht. Alles prätentiös und Bedeutung simulierend. Den Inhalt der anderen Geschichten habe ich nach dem Lesen gleich wieder vergessen. „Zehn Geschichten aus zehn Jahren“ hat Wells oder der Verlag ausgewählt. War da nicht Besseres zu finden? Oder musste das Geschäft bedient werden nach dem erfolgreichen Roman? »Mann, kann der Mann” nicht einfach schweigen, wenn er nicht schreiben kann.

P.S. Bin ich der grantelnde Sonderling, der die Begeisterung für Benedict Wells für einen grandios überzogenen Hype hält? Was hat mich geprimet? Soll ich nach Umkehr (dafür, dass man sein als falsch, als Irrweg erkanntes Verhalten von Grund auf ändert, Duden) streben?

2018          245 Seiten


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