Fatou Diome: Der Bauch des Ozeans
George Weah kam aus dem westafrikanischen Liberia zum AC Milan und wurde Weltfußballer des Jahres 1995. (Zweiter wurde Paolo Maldini.) Jetzt bewirbt sich Weah um das Amt des Präsidenten seines Herkunftslandes, in dem 85% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.
Der französische Präsident Macron hat „vergangene Woche vorgeschlagen, sogenannte Hotspots in Libyen einzurichten: Auffanglager, in denen geprüft werden soll, wer eine Chance auf Asyl in Europa hätte und wer schon an der Reise über das Mittelmeer gehindert werden sollte. Macron begründete diese Vorverlagerung der Grenzkontrolle humanitär: Diejenigen, die Schutz oder auch nur ihr Glück in Europa suchen, sollen geschützt werden vor den tödlichen Gefahren, die sie dafür zu riskieren bereit sind – und vor der bitteren Enttäuschung, die sie in einem Europa, das sie nicht will, erwarten würde. (Carolin Emcke)“
Das steht nicht in Fatou Diomes Roman „Der Bauch des Ozeans“ aus dem Jahr 2003. Das steht in der Süddeutschen Zeitung vom August 2017. Aber es zeigt, dass die Themen 14 Jahre später noch die gleichen sind, dass keine Lösungen gefunden wurden und dass Romane die Probleme nicht beseitigen können. Auch wenn dies Anliegen der Autorin ist.
Madické, der kleine Bruder der Erzählerin, sitzt auf einer kleinen senegalesischen Atlantikinsel vor dem Fernseher und ärgert sich, dass die Übertragung der Spiele seines Idols Paolo Maldini (AC Milan) nicht störungsfrei ist. Er träumt von einer Karriere in der französischen Liga, die Schwester, als Schriftstellerin in Frankreich erfolgreich, soll helfen: Geld, Kontakte, Erfahrung.
Salie aber, die Erzählerin, hat den Überblick, sie hat Bildung, sie ist eine altera ego der Autorin. Sie weiß um die vielen gescheiterten Träume von Afrikanern, die in Europa nur das Paradies sehen. Sie weiß, dass die Nachrichten in die Heimat geschönt sind, nicht vom Elend berichten. Man verschließt Augen und Verstand. Die Schwester setzt alles ein, ihren Bruder zu desillusionieren, ihm die Augen zu öffnen; sie will ihn vor der „bitteren Enttäuschung“ warnen.
Auch Madické war besessen von diesem Traum. Er zählte auf mich. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: fortgehen, weit fortgehen, über die schwarze Erde fliegen, in dieses weiße, von tausend Lichtern funkelnde Land; fortgehen, ohne zurückzuschauen. Wer über das Hochseil seiner Träume tanzt, dreht sich nicht um. Er wollte ans andere Ende des Ozeans, wo du fürs Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt beziehst, wo du fürs Nichtarbeiten Geld bekommst… dorthin, wo das Gras soviel grüner ist… wo schon die Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum daß sie auf der Welt sind, einen Karriereplan. Wer sich dieser Sehnsucht in den Weg stellte, war verflucht.
Diese bittere Erfahrung machte ich, als ich in den Sommerferien, ein paar Monate vor der Europameisterschaft, nach Hause kam. Mein Brude wollte um jeden Preis auswandern. Er war groß geworden mit der fixen Idee, fortzugehen, um an derswo Erfolg zu haben. Ältere hatten ihn mit die sein Wunsch angesteckt, der ihm immer mehr al seine Bestimmung erschien. Auswandern war das Leitmotiv für seine Zukunft, sein gesamtes Leben. (…)
Es wurde meist spät, bis Madické und seine Freunde in den Gassen des schlafenden Dorfs verschwanden. Der Mann aus Barbès warf sich aufs Bett und kaute an seiner Wange. Zum Glück hatte er seine Stellung wieder behaupten können, ja sogar ausgebaut. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er damit angefangen, wahre Wunderdinge zu berichten, die großartiger waren als alles, was je über Paris geschrieben wurde. Er war zum besten Botschafter Frankreichs geworden und sonnte sich in dessen Glanz. Er brauchte die Massage nicht für seinen kleinen Mann – die Anzahl seiner Erben zeigte, daß ihm Rocco nichts voraushatte außer ein paar Millionen -, sondern gegen den Albtraum, daß ihm von seinen vielen Lügen wie Pinocchio eine lange Nase wachsen könnte. Er verkaufte Salz für Zucker, und sein Publikum fraß ihm aus der Hand, weil beides im Mondlicht gleich glitzert. Er verdrängte sein schlechtes Gewissen: War es denn so schlimm, nur bestimmte Erinnerungen auszuwählen und zu vergolden? In Wahrheit war er in Paris der Neger gewesen. Doch von dieser erbärmlichen Existenz, über die er den Mantel des Vergessens gebreitet hatte, schimmerte in seinen farbigen Schilderungen nichts durch.
Fatou Diome schreibt über die schützende und erdrückende Gemeinschaft im Senegal, die den “Westler” als “Individualisten” brandmarkt und man versteht, weshalb die Familie/der Clan auch für Afrikaner in Europa so wichtig sind. Sie schreibt über die Stellung der Frauen, die nur innerhalb ihrer Familie eine denkbare und dienende Rolle spielen.
Nach den uralten Gesetzen der Ahnen schlossen sie eherne Bündnisse im Interesse der Sippen und besiegelten das Schicksal der Mädchen. Nicht Liebende wurden da vereint, sondern Familien zusammengeschmiedet. Der einzelne ist nur ein Glied in der Kette des Clans. Jede Lücke wird sofort durch eine Heirat geschlossen. Die Äste des Palaverbaums reichen bis in die Betten, in denen die getroffenen Vereinbarungen vollzogen werden. Die traditionelle Diplomatie ist nur die Spitze der Pyramide, die auf dem Dreieck zwischen den Beinen der Frauen gründet.
Die traditionelle Gemeinschaft gibt Sicherheit, aber sie erdrückt dich auch und walzt dich platt. Sie zermalmt dich wie ein Mörser, damit sie dich besser verdauen kann. Die Bande, die dich mit der Gruppe verknüpfen, nehmen dir die Luft zum Atmen, und du denkst nur noch daran, sie zu zerreißen. Das Feld der Pflichten und das der Rechte liegen zwar nah beieinander, aber das erste ist so weitläufig, daß du es dein Lebtag lang beackerst und erst zum zweiten kommst, wenn das Alter dich von der Arbeit befreit. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist eine selbstverständliche innere Gewißheit; der Zwang dazu nimmt dir das Recht auf Selbstbestimmung. Aber sag das mal den Herdentieren, die stur ihre Werte wiederkäuen! Dann beschimpfen sie dich als Individualistin, als Kopie der Kolonialherren, und schließen dich aus. Frauen sind da am schlimmsten.
Wenn man den Roman liest, versteht man, weshalb Mauern und Meere den Drang nach Norden ins unermesslich reiche Europa nicht eingrenzen können. Man begreift, dass der Flüchtling, der nach Libyen oder weiter nach Süden zurückgebracht wird, dort nicht bleiben kann. (Man müsste ihn einsperren.) – Vielleicht liest man solche Romane aber nur, wenn man das alles schon verstanden hat. – “Ich will Ihnen sagen, was wirklich schamlos ist: wie die Dritte Welt verhungert, während der Westen aus allen Nähten platzt.” Das aber ist, wie vieles im Buch, politisches Statement, keine Fiktion. Aus Europa ist keine Hilfe zu erwarten:
Die Linke ist eine Kaviarlinke, die macht die Armen mit leeren Reden besoffen und frißt sich selbst mit gutem Gewissen voll. Die Linke ist zwar die Mutter der kleinen Leute, aber statt uns Milch zu geben, stellt sie lieber ihre schönen Brüste zur Schau. Und Integration gibt es auch bloß für die Nationalelf.
Der Roman endet im positiven Trugbild. Die in Frankreich erfolgreiche Schwester schickt ihrem Bruder Geld, damit er auf der Insel einen Laden eröffnet. Aber das ist nur einen Lösung für einen Menschen. Wer wird bei hm einkaufen? Was, wenn ein zweiter Laden aufmacht? Immerhin kann Madické sich einen störungsfreien Fernseher leisten.
„Der Bauch des Ozeans“ ist eine politisch gefärbte Sozialanalyse in Form einer Familiengeschichte. So kann sie exemplarisch sein, in ihren Figuren austauschbar, so wird sie zum konsumierbaren Roman. Diome zeigt auch, wie wichtig die Sprache ist zum Verstehen des Lebens, zur Begründung von Tradition. „Auch wenn du noch so nach Liebe hungerst, wirst du keinen Seeigel küssen.” »Nimm mich mit, Ozean, dein bitterer Bauch sei mir ein weiches Lager. Die Legende sagt, daß du jedem Zuflucht gewährst, der dich darum bittet.«
2003 275 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
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