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Ulrich Alexander Boschwitz:
Der Reisende
Otto Silbermann wird abrupt aus seinem Leben gerissen. 1938 bei den Novemberpogromen stürmen und verwüsten Nazis die Wohnung ds Geschäftsmanns, er kann gerade noch durch den Nebenausgang entkommen. Damit aber steht er auf der Straße, die Verbindungen zur Familie und zu Bekannten sind gekappt. Er ärgert sich, zu lange mit der Ausreise gewartet zu haben, er fühlte sich als Deutscher und WK1-Teilnehmer sicher. Er will seine Hoffnung nicht aufgeben: „Es muss doch Leute geben, die trotz aller Gelegenheiten anständig und Menschen bleiben. Die nichtzum Schwein werden, nur weil sie eine Pfütze sehen, in der es sich suhlen lässt.“ Jetzt sind Grenzen und Fluchtwege verschlossen. Kein Einzelschicksal. Der Versuch, nach Belgien zu kommen, endet in einem Wald. „Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären im die Grenzwächter.
Silbermann trägt in seiner Aktentasche Geld bei sich, das ihm Möglichkeiten und Sicherheiten zu versprechen scheint. Es bindet aber auch seine Aufmerksamkeit. Schnell stellt er fest, dass seine Kompagnons sich von ihm abwenden. Sein Prokurist Becker raubt Silbermann Geld, Boschwitz beschreibt ihn als Prototyp des „arischen“ Profiteurs, als „Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren? (Alex Rühle, SZ). Silbermanns Sohn in Paris kann oder will nichts für ihn tun, seine Frau ist zu ihrem Nazi-Bruder an die Ostsee gefahren. Jeder Kontaktversuch stellt ein Risiko dar, Silbermanns bisheriges Leben hat ihn nicht auf diese Art von Gefahr vorbereitet. Er fühlt sich isoliert, hilflos, er beginnt zu hyperventilieren, zu strampeln und da kann man natürlich nichts richtig machen, da fällt man auf.
Silbermanns Lebensraum verengt sich zusehends. Da er sich auf offener Straße beobachtet fühlt und stets fürchtet, als Jude erkannt zu werden, setzt er sich in den Zug. Überall ist es besser als dort, wo man gerade ist; man möchte reden, sich absichern, doch jeder Versuch kann in der Finalität des KZs enden. Er sieht nicht wie ein Jude aus – damals schien man Juden auf den ersten Blick zu erkennen -, doch in seinem Pass steht sein Name und der „J“-Stempel, eine Kontrolle wäre das Aus.
Zornig warf er die Zigarette, die er sich angesteckt hatte, fort. Was ich auch getan habe, dachte er, heute bekommt es ein neues Gesicht, denn heute bin ich ein angezweifelter Mensch, ein Jude.
Er stieg in den inzwischen eingelaufenen Zug ein.
Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Reisen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprügelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweiflung, und dort lassen sie einen stehen.
Er sah vom Fenster aus ein vorbeifliegendes, sauberes, reizvolles kleines Bauerndorf.
Das ist alles nur Kulisse, dachte er. Das einzig Wirkliche ist die Jagd, die Flucht.
Er lehnte sich zurück.
Ich möchte schwätzen, dachte Silbermann. Ich möchte ununterbrochen schwätzen. Er lehnte den Kopf an seinen aufgehängten Mantel und schloss die Augen. Er lauschte auf das Rattern der Räder.
Berlin – Hamburg, dachte er.
Hamburg – Berlin
Berlin – Dortmund
Dortmund – Aachen
Aachen – Dortmund
Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender.
Ich bin überhaupt schon ausgewandert.
Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland.
Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied. Wieder hörte er auf das Stoßen der Räder, die Musik des Reisens.
Ich bin in Sicherheit, dachte er, ich bin in Bewegung. Ja, und es ist beinahe gemütlich.
Räder rattern, Türen gehen, geradezu vergnüglich könnte das sein, man denkt nur zu viel.
Dann lächelte er. Früher veranstaltete die Reichsbahn Fahrten ins Blaue, erinnerte er sich. Jetzt veranstaltete sie die Reichsregierung.
Ulrich Alexander Boschwitz schrieb den Roman 1939 im Exil in Australien, er war 27 Jahre alt. „Der Reisende“ erschien 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman vergeblich seinem Hausverlag Middelhauve. 2018 gibt Peter Graf das Buch erstmals auf Deutsch heraus. (Mehr Informationen)
Wenn man den Roman liest, ist man im Jahr 1938. Heute können wir zurückblicken auf das, was nach 1938 folgte. Boschwitz sah nur, was sich anbahnte, doch das war deutlich genug. Aber man musste es auch sehen wollen. „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“, sagt Silbermann. „Heutzutage mordet man wirtschaftlich.“ Boschwitz lässt den Leser hautnah miterleben, was das bedeutet. Er führt die Mitreisenden vor als „Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil „jüdisch“ aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin“ (Andreas Kilb, FAZ). „Alles Verräter, dachte er, alle, alle, alle. Keiner hält stand. Sie ducken sich, und sagen: Wir müssen, aber sie wollen auch. Was sind denn die berühmten Gelegenheiten ohne diejenigen, die sie ausnützen?“ Dabei sind nicht alle Nichtjuden böse, sind nicht alle Juden sympathisch. Aber darauf kommt es nicht mehr an, wenn einem mit dem Stempel der Makel aufgedrückt ist. Das Weglaufen vor der Gefahr ist in die Gedanken gewandert, auch sie kreisen ohne Ziel, ausweglos. Deprimierend, intensiv. Vergleichbar mit Anna Seghers. Leider aktuell.
Es gab Epochen, in denen viele Menschen vor Lebensträgheit fast an sich selbst erstickten und sich darum verzweifelt in abenteuerliche Affären stürzten und mit den Stühlen, auf denen sie allzu bequem saßen, zu ihrer eigenen Erheiterung recht gefährlich hin und her wackelten. Man holte sich seine Emotionen von der Börse. Nun aber werden sie einem ausreichend geliefert. Als Kind träumte ich den Zügen nach. Wie gerne wäre ich mitgefahren, immer weiter gefahren.
Jetzt fahre ich. Jetzt fahre ich.
Das logische Ende ist, dass das Überleben nur noch möglich scheint, wenn man seine Humanität opfert.
»Sie kompromittieren mich ja«, stieß Silbermann gereizt und verdrossen hervor.
Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Ausdruck des Behagens, das es beim Essen angenommen hatte, seine Augen weiteten und sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Er neigte den Kopf, bis er fast auf seiner rechten Schulter auflag. Dann stand er wortlos auf, nahm von dem neben ihm stehenden Stuhl Hut und Mantel und kleidete sich an.
»Hamburger«, sagte Silbermann. »Ich habe das nicht so gemeint. Es ist mir nur so rausgerutscht.
Mit verstörten Blicken sah er sich in dem Lokal um. Was trennt mich denn eigentlich noch von euch, dachte er. Wir gleichen uns auf geradezu beängstigende Weise.
Er aß zu Ende, bezahlte und verließ dann das Lokal.
1939/2018 305 Seiten
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Ulrich Alexander Boschwitz:
Menschen neben dem Leben

Ein Großstadtroman. Anfang der 1930er-Jahre, Berlin natürlich. Kriegsbehinderte, Arbeitslose, Bettler, Entwurzelte, verfallendes Bürgertum, Frauen, die, da sie sonst nichts haben, ihre Körper für billiges Geld verkaufen. Wohnen ist ein prekäres Gut, da muss schon einmal ein fensterloser Kellerraum neben dem Lager des Gemüsehändlers reichen. So ein Roman hat sein Personal schnell beieinander, die Handlung ergibt sich aus den Scharmützeln des Überlebens. Allianzen täten not, doch wem kann man trauen.
Als Referenzen nennt Herausgeber Peter Graf Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (von 1929), Falladas Romane von Anfang der 1930er-Jahre, daneben Irmgard Keun, Vicky Baum, Kästner, Tergit, etwas früher die Bilder von Heinrich Zille, Walther Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt“. Ulrich Alexander Boschwitz’ „Menschen neben dem Leben“ erschien 1937, zuerst auf Schwedisch. Peter Graf hat ihn wiederentdeckt und ihn 2019 publiziert.
Die Tauentzienstraße bebte. Die riesigen, zweistöckigen Autobusse sausten wie fahrende Häuser von Haltestelle zu Haltestelle. Straßenbahn folgte auf Straßenbahn. Sie surrten vorbei, klingelten und benahmen sich so anspruchsvoll wie nur möglich. Die Ketten der Autos rissen nicht ab.
Um die Mittagszeit fuhren alle Direktoren und Direktörchen zum Essen. Sie hatten es eilig und zeigten es auch. Sie hupten und tuteten wild durcheinander und fraßen die Nerven der Leute, die zu Fuß gingen.
Benzingestank und Auspuffgase verpesteten die Luft.
Wie schön ist es, bequem in einem Auto zu sitzen. Hinten aus dem Auspuffrohr kommt der Qualm in schmutzigen Schwaden hervor. Man selbst sitzt vorne, man selbst merkt nichts davon, man selbst gibt Gas und braust davon. Nur die anderen, die Unbekannten, die Uninteressanten bekommen das Gas mit Luft vermischt in die Lungen. (…)
Die Autos standen in Reih und Glied. Das Verkehrssignal verbot die Weiterfahrt. Endlich wechselten die Farben. Wie eine Herde wilder Tiere brüllten die Autos auf. Vorwärts. Der Schlachtruf der Großstadt ertönte.
Hysterisch klingelten die Straßenbahnen. Dumpf grollten die großen Autobusse. Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder. Die Autos und Lastwagen stießen eine dunkle, mit hellen Tönen gemischte Musik aus. Vorwärts!
Berlin hatte keine Geräuschverbote. Man merkte es.Auf einer Bank, die auf einer in den Asphalt gequetschten, kümmerlichen Grünanlage stand, saß Frau Fliebusch und sah verständnislos auf den Verkehr. Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht. Frau Fliebusch war die Frau von gestern. (…)
Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht mehr, und das war ihr Unglück. Ihre Vorstellungswelt bewegte sich immer noch in der Vorkriegszeit. Alles, was später gekommen war, all das Fliebusch-Feindliche, der Krieg und die Inflation und alle Ergebnisse des Krieges, all die Übel der letzten Neuzeit, waren an Frau Fliebusch vorübergerauscht wie ein entsetzlicher Traum.
Sie glaubte nicht daran. Sie glaubte nicht, dass dies alles Wahrheiten, nüchterne, alltägliche Wahrheiten waren. So wie sie bis heute noch nicht begriffen hatte, dass Fliebusch, Wilhelm Fliebusch, der kraftvolle, schöne Wilhelm, einer Granate zum Opfer gefallen war. Auch dass ihr Geld, ihre sechzigtausend Mark, entwertet worden waren, glaubte sie nicht. (…)
Unentschlossen sah sich Frau Fliebusch um. Wo sollte sie hingehen?
Aber „Wahrhaftigkeit, das weiß Boschwitz, erlangen seine Figuren vorderhand nicht durch einen scheinbar objektiven Realismus, sondern durch das gleichzeitige Sichtbarmachen der naiven, gefühlsgesteuerten, mal rücksichtsvoll, oft rücksichtslos ichbezogenen und von Traumata durchzogenen Lebenswirklichkeit von Fundholz und seinen Freunden, bei denen Irrationalitäten, Selbstbetrug und Verdrängung notwendiger Bestandteil der Überlebensstrategie sind.” (Peter Graf im Nachwort)
Der Arbeitslose Grissmann stand gegen den Blinden Sonnenberg.
Zwei geprügelte Menschen standen vor der Explosion. Sie explodierten gegeneinander. Sie sahen in sich gegenseitig den Todfeind. Den Feind, dessen bloße Existenz das Leben vergiftete. Sie lagen beide unter den Rädern des Lebens. Ihre Revolte gegen das Leben wurde zu einer Revolte gegen sich selbst.
Die Räder zerquetschten sie, verkrüppelten sie, körperlich oder geistig. Aber die Räder standen jenseits ihrer Fassungskraft.
Das Leben war gegeben, wie es war. Es zu ändern, stand nicht in ihrer Macht.
Sie konnten nur einer den anderen zerstören. Sie konnten sich nur sekundenlang befreien von dem Druck, der auf ihnen lastete, indem sie den anderen vernichteten.Sie konnten sich nur ein Ventil schaffen, ein Ventil für erlittene Enttäuschungen und für alle Leiden.
So wie zwei Nationen plötzlich ohne scheinbare Notwendigkeit übereinander herfallen, sich begeistert in Kriege treiben lassen für die Interessen Unbekannter und Ungenannter, so gab es auch für Menschen Augenblicke, in denen sie sich hemmungslos dem Vernichtungstrieb unterwarfen.
Boschwitz beschreibt seine Figuren nicht nur, er analysiert sie, erklärt ihre psycho-sozialen Defizite, Getriebenheiten. Er setzt sie als Spielfiguren ein, führt sie, lässt sie leiden und scheitern. “Sie bewegen sich in einem tragischen, immer wieder aber auch komischen und von einer überwältigenden Menschlichkeit grundierten Ereignisgeflecht ungelenk und doch stetig aufeinander zu, bis sie sich schließlich alle eingefunden haben an dem Ort ihrer schicksalhaften Begegnung” (Peter Graf), im »Fröhlichen Waidmann«.
In “Der Reisende” focussiert sich Boschwitz auf das Einzelschicksal, treibt seinen Otto Silbermann in die ausweglose Verzweiflung. Das geht einem näher.
1937 / 2019 300 Seiten
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