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Hans Magnus Enzensberger:
Schreckens Männer.
Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Magnus Enzensberger (HME) beobachtet und beschreibt und ist unerwartet fest in seinen Urteilen.Was auch hier nicht geklärt wird: Weshalb wird der eine ein Schreckens Mann, der andere aber nicht. Es gibt wohl familiäre und soziale Bedingungen, aber keinen Automatismus, der einen Mann zum „radikalen Verlierer“ macht? Und weshalb trifft es nicht gleichermaßen die Frauen, obwohl sie qua Geschlecht die Unterdrückten schlechthin sind?
Die Kennzeichen der Schreckens Männer nach HME:
Alle Charakteristika, die aus anderen Zusammenhängen hinreichend bekannt sind, kehren hier wieder: die gleiche Verzweiflung über das eigene Versagen, die gleiche Suche nach Sündenböcken, der gleiche Realitätsverlust, das gleiche Rachebedürfnis, der gleiche Männlichkeitswahn, das gleiche kompensatorische Überlegenheitsgefühl, die Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung und der zwanghafte Wunsch, durch die Eskalation des Schreckens Herr über das Leben der anderen und über den eigenen Tod zu werden.
HMEs These: Es sid die „radikalen Verlierer“, die sich radikalisieren.
Dem, der sich eine Überlegenheit zuschreibt, die in der Vergangenheit als selbstverständlich galt, und der sich nicht damit abgefunden hat, daß die Tage dieses Primats abgelaufen sind, wird es unendlich schwerfallen, mit seinem Machtverlust fertigzuwerden. (Es ist noch nicht lange her, daß es in deutschen Familien einen »Haushaltungsvorstand« gab.) Ein Mann, der sich als radikaler Verlierer fühlt, hat es aus all diesen Gründen mit einer imaginären Fallhöhe zu tun, die einer Frau eher fremd ist.
Allerdings genügt das, was die anderen von ihm halten, seien sie Konkurrenten oder Stammesbrüder, Experten oder Nachbarn, Mitschüler, Chefs, Feinde oder Freunde, vor allem aber seine Frau, dem Verlierer nicht, um ihn zu radikalisieren. Er selbst muß sein Teil dazu beitragen; er muß sich sagen: Ich bin ein Verlierer und sonst nichts. Solange er davon nicht überzeugt ist, mag es ihm schlechtgehen; er mag arm sein, machtlos; er mag die Misere und die Niederlage kennen; zum radikalen Verlierer aber hat er es erst gebracht, wenn er sich das Votum der anderen, die er für Gewinner hält, zu eigen gemacht hat. Erst dann »rastet er aus«.
Leider immer noch aktuell, weil immer noch nicht verstanden, weil immer noch propagiert vom Kollektiv der Verlierer: “Man kommt zur Überzeugung, dass es sich um einen Einzelfall handelt. (…) Das ist richtig; denn es handelt sich bei all diesen Tätern um isolierte Personen, die keinen Zugang zu einem Kollektiv gefunden haben. Es ist falsch; denn offenbar gibt es immer mehr solcher Einzelfälle. Daß sie sich häufen, läßt den Schluß zu, daß es immer mehr radikale Verlierer gibt. Das liegt an den sogenannten Verhältnissen. Damit kann der Weltmarkt ebenso gemeint sein wie eine Prüfungsordnung oder eine Versicherung, die nicht zahlen will.“
Im zweiten Teil seines “Versuchs” weitet HME seine Betrachtung über gewaltbereite Täter auf eine ganze Bewegung aus: den Islam. Das ist natürlich problematisch, weil es den Islam nicht gibt. HME legt sich Geschichtsbeobachtungen zurecht. Die “Ideologie des Islamismus” stellt “insofern ein ideales Mittel zur Mobilisierung radikaler Verlierer das, als es ihr gelingt, religiöse, politische und soziale Beweggründe zu amalgamieren.” HME zitiert Dan Diner (Versiegelte Zeit. Über den Stillstand des islamischen Welt): Islamische Rechtsgelehrte haben die Einführung der Druckerpresse sabotiert, technologisch haben die arabischen Länder jeden Anschluss an Europa verloren.§ Ja, der “Vorsprung” des Westens ist erkennbar, aber doch auch nur relativ. „Der technologische Rückstand stellt für “jeden Araber, der einen Gedanken fassen kann, eine Demütigung dar”. Das konfligiere aber mit dem Selbstbild: “Ihr seid die beste Gemeinde, die je unter Menschen entstanden ist. “ (Koran 3,111) Die besten Voraussetzungen, die Männer zu “radikalen Verlieren” und sie so anfällig für Gewalt macht. Auch gegen sich selbst.
“Noch tiefer in der arabischen Geschichte verwurzelt sind die Probleme, die mit der Stellung der Frauen zusammenhängen. Welche Auswirkungen es für die Entwicklung einer Gesellschaft hat, wenn die Hälfte der Bevölkerung massiven Beschränkungen nicht nur in der Ausbildung und im Berufsleben unterliegt, läßt sich nur schwer ermessen. Der Koran ist in dieser Beziehung eindeutig.“ (…)Auf die Dauer fällt es schwer, sich einer feindseligen Welt gegenüber zu behaupten, und nie läßt sich der Verdacht ganz und gar ausräumen, daß es eine einfachere Erklärung geben könnte; nämlich die, daß es an ihm liegt, daß der Gedemütigte selber schuld ist an seiner Demütigung, daß er den Respekt, den er einfordert, gar nicht verdient und daß sein eigenes Leben nichts wert ist. Psychologen nennen diese Heimsuchung die Identifikation mit dem Aggressor.”
Enzensbergers “Versuch” gibt viele interessante Denkansätze. Es fällt kaum auf, dass die Gedanken von 2006 stammen, wo im wesentlichender Angriff auf das WTC bekannt war. Die Komplexe der arabischen Welt, die im Weiteren zu einer Vielzahl von Attacken im und auf den Westen führten, bestätigen Enzensbergers Einsichten ebenso wie seine Notate zur Misogynie und zu “Einzeltätern”. Das Büchlein ist keine ausgearbeitete Pscho- oder Sozialanlayse, Pauschalisierungen und Auslassungen ist man von Enzensberger gewohnt, er will ja provokativ sein. Rudolf Maresch zeiht ihn des Ressentiments und nennt ihn “genialen Vereinfacher”.
Eine kürzere erste Fassung des Essays unter dem Titel “Der radikale Verlierer” ist im November 2005 im SPIEGEL erschienen.
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César Rendueles:
Kanaillen-Kapitalismus.
Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Entschieden verurteilt César Rendueles den Kapitalismus als „Kanaille“ . Kanaille ist die „Hundemeute“ und so raubtierhaft verhält sich auch der Kapitalismus denen gegenüber, die abhängig von ihm sind, die abhängig gemacht wurden, die für ihn und … arbeiten. Das beginnt mit Sklaverei und Kolonialismus du hört mit Konsumismus und Neoliberalismus nicht auf. Schon immer ging es um Ausbeutung, um Unterdrückung, um Entmenschlichung.
Die Unterwerfung aller sozialen Institutionen durch den Markt machte eine umfangreiche und hochkomplexe Sozialarchitektur notwendig, die über einen sehr langen Zeitraum perfektioniert werden musste. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum den Ökonomen der sportlich-militärische Wortschatz so gut gefällt und warum sie unablässig von Härten und Disziplin sprechen. Wir haben drei oder vier Jahrhunderte Training gebraucht, bis wir Arbeit, Boden, Grundnahrungsmittel und sogar das Wasser als Waren akzeptierten, die man kaufen und verkaufen kann, während wir gleichzeitig die Daumen drücken, dass die störungsfreien Märkte den erhofften Gleichgewichtszustand herstellen.
Rendueles will das nicht beweisen, die Diagnose steht ja fest. Er will seine Thesen mit literarischen Texten belegen, wobei die Text eben nicht Quelle, sondern literarische Bezugsstücke sind.
Mein Anliegen war nicht, systematisch und mit rigorosen literaturwissenschaftlichen Instrumenten zu analysieren, wie sich die Geschichte der Literatur mit der Evolution der kapitalistischen Gesellschaft verknüpft hat. Ich benütze die literarischen Texte auch nicht als Informationsquelle, um komplexe historische Phänomene zu untersuchen. Vielmehr habe ich mich bemüht, anhand von Romanen, Lyrik und Theaterstücken eine fiktive Chronik der politischen Dilemmata unserer Zeit zu verfassen. (…) Ihre Interpretation ist rein subjektiv (und bisweilen auch nichts anderes). Die in diesem Buch versammelten autobiografischen Fakten ihrerseits spiegeln getreu, aber ausschließlich das wider, was sich in meinem Kopf (und oft nur dort) zugetragen hat.
Überall auf der Welt setzte sich bei den Menschen die intuitive Überzeugung durch, dass die grauenhaften Konflikte ihren Ursprung in der Macht hatten, welche die Marktkonkurrenz über ihr Leben erlangt hatte; in der Tatsache, dass das vorausgegangene Jahrhundert der Wirtschaft die Macht verliehen hatte zu entscheiden, was möglich, unmöglich, wünschenswert oder wertvoll war.
Lange Zeit hatten die ökonomischen und politischen Eliten vehement behauptet, die Expansion des Handels gewährleiste das Wohlergehen und die Eintracht zwischen den sich als zivilisiert betrachtenden Ländern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte der Markt sein verborgenes Gesicht: ein Abgrund an Irrationalität, die alles vergiftete – von den internationalen Beziehungen bis zum eigenen Privatleben.
Die Textauswahl ist vielfältig, vieles ist allgemein bekannt. Man stößt auf Daniel Defoe (Robinson Crusoe: Domestizierung der Gesellschaft durch den Markt), E.T.A. Hoffmann (Serapions-Brüder: Ökonomisierung der Gesellschaft), Alexander von Humboldt (Kolonialisierung), Charles Dickens (Oliver Twist: Lohnarbeit), Heinrich von Kleist (Michael Kohlhaas: Machtwillkür), Fjodor Dostojewski (Die Dämonen: Demokratisierung als Zerstörung sozialer Beziehungen, die zum Terror führt). Und viele mehr, auch neuere Autoren, auch aus dem spanischen Sprachkreis – Rendueles ist Soziologe in Madrid. Nciht alle Texte sind gleich erhellend. Leider sind die Zitate sehr klein gedruckt. Wollte ihnen der Verlag nicht vertrauen? Man liest gern darüber hinweg.
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Volker Weiß: Die autoritäre Revolte
Volker Weiß’Thema sind nicht die spektakelnden Knallknöpfe des politischen Betriebs, nicht die desorientierten Mitläufer, sondern die, die für die autoritätsaffine Rechte einen vergangenheitsaffinen Grundstock an Gedanken liefern: die „Metapolitik“. (Mir widerstrebt es, bei Alt- und Neurechten von Gedanken zu sprechen, es ist eher ein mythologisierendes Raunen, ein Schnittmuster für Denkschwache.*)
Ein Beispiel, wie ein “klassischer Mythos durch den Fleischwolf gedreht” wird: “In 300 hält eine kleine Schar soldatischer Übermenschen unter Spartas König Leonidas am Thermopylen-Pass 48o v. Chr. der Invasion einer haushoch überlegenen Multikulti-Streitmacht des Perserkönigs Xerxes stand, um Zeit für weitere Verteidigungsmaßnahmen im Hinterland zu gewinnen. Folgt man den Narrativen des Historismus, so ermöglichte dieses Selbstopfer die Geburt der abendländischen Kultur.” So weit – so hergeholt – so Hirnintrusiv.
Die aktuell sich selbst ansagenden Wiedergänger: Götz Kubitschek und seine Ellen Kositza, Karlheinz Weißmann, Alexander Dugin etwa oder der irr vorlaufende Thilo Sarrazin oder der Hintergrund-Krakeler* Björn Höcke u. dgl. mehr. Die immer wieder aufgerufenen Vor-„Denker“ Oswald Spengler, Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck, Julius Evola, Alain de Benoist, Armin Mohler („Die konservative Revolution in Deutschland“, dessen Titel sogar der CSU-Flachdenker* Alexander Dobrindt im Munde führt.) Weiß nennt auch die zughörigen „Theorie“-Organe, er wird sie haben lesen müssen. Der rechte Zirkel kreist in sich.
Es sind immer wieder die gleichen Feindbilder, welche die autoritäre Rechte bemüht und die sie sich zurechtbiegt: Universalismus, Demokratie, Liberalismus, Gleichheits-Ideologie, Aufklärung, Moderne – oder konkret: Homosexuelle, Dekadente, Frauen!
„Die größte Bedrohung unserer Identität ist keine andere Identität, sondern der politische Universalismus in allen seinen Formen, der die Volkskulturen und unterschiedlichen Lebensstile bedroht, und der sich anschickt, die Erde in einen homogenen Raum zu verwandeln.” (Alain de Benoist) “Präziser lässt sich das Verhältnis von fremder Gegen-Identität und universalistischer Nicht-Identität kaum fassen.”
Volker Weiß hat den Überblick, er zieht Linien, erschließt Verwandtschaften. Er vermeidet psychologische Erklärungen. Längere Abschnitte oder Kapitel widmen sich dem “Reichsmythos”, der “Schicksalsgemeinschaft der Nation”, der “Identitären Bewegung”, dem “Ethnopluralismus”.
»Unser Volk hat von anderen Völkern viel gelernt und anderen Völker viel beigebracht, sein Erfindergeist, sein Organisationstalent, sein Fleiß sind sprichwörtlich, seine Musik und seine Philosophie sind einzigartig. Unser Volk hat sich in der schwierigen Mitte Europas behauptet, es hat Kriege geführt und wurde mit Krieg überzogen. Warum zähle ich das auf? Ich zähle es auf, weil wir alle hier diejenigen sind, die diese deutsche Geschichte weitertragen müssen und weitertragen dürfen.« (Götz Kubits
Die traditionellen Lehren von der weißen Überlegenheit, die den europäischen Rassismus geprägt hatten, wurden durch das neue Konzept des »Ethnopluralismus« ersetzt, der eine Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen propagiert. Das klang zunächst wesentlich menschenfreundlicher als die üblichen Ungleichheitslehren, barg aber im Glauben an ethnische Homogenität und der Verbindung von Volk und Raum dieselben Ausschlussmechanismen, nur in modernisiertem Gewand.
Ein eigenes Kapitel klärt auf über “»Abendland« – Kurze Geschichte eines Mythos”.
Wieweit das Wirken der “Metapolitik” erfolgreich ist, lässt Weiß offen. Wenn man liest, was etwa die Mitläufer der Pegida bewegt, möchte man fast erleichtert hoffen. “Eine Überraschung vor allem hinsichtlich des Selbstverständnisses von Pegida bot allerdings die Antwort auf die Frage nach der Motivation zum Besuch der »Abendspaziergänge«: »Nur 24,2 Prozent aller befragten Personen geben dabei mögliche Bedrohungen und Ängste durch den Islam, den Islamismus oder die Islamisierung als Begründung für ihre Teilnahme an Dresdner Pegida-Veranstaltungen an. Der Bezug auf ein zentrales Mobilisierungsmotiv von Pegida konnte damit bei einer großen Mehrheit der befragten Pegida-Teilnehmer in Dresden nicht nachgewiesen werden.« Mindestens ebenso wie die Sorge um das christliche Abendland trieben die Teilnehmer vielmehr Ängste vor sozialem Abstieg, Kriminalität, »Überfremdung« und »Identitätsverlust« auf die Straße. Auch eine allgemeine Unzufriedenheit mit »den Medien« und »der Politik« wurde häufig genannt.“
Andererseits: Weiß’ Buch stammt von 2017. Von einem Einhegen oder gar Zurückdrängen der “autoritären Revolte” ist auch Anfang 2020 wenig zu spüren. Die rechte Masse reagiert folgsam auf die Stichworte.
»Endlich eine Darstellung der deutschen Rechten, die sich nicht in billiger Polemik erschöpft, sondern gründlich, gerecht und darum vernichtend ist.« (Gustav Seibt) Vernichtend ist sehr hoch gegriffen, wer liest denn Seibt, wer von den Krakeelern liest überhaupt? Sehr informativ.
(* Wertung von mir, WS)
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Volker Weiß – Die autoritäre Revolte [3sat Kulturzeit] – 7 Minuten
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Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister
Zuweilen gewinnt man den Eindruck, Hölderlin drücke sich so kompliziert aus, um die Schlichtheit seiner Gedanken zu verbergen. Schließlich geht es immer nur um die Einheit von göttlicher Sphäre und menschlicher, ums All-Eine und Vereinigung.
Der eine Vorzug von Karl-Heinz Otts Geister-Emanationen ist ihre Darbietung als lesegerechte Häppchen. „Kleine Miszellen und Episteln“, nennt das Helmut Böttiger (SZ), der mehr Wörter kennt als ich. Nach wenigen Seiten jeweils wird ein Esprit-Stückchen vom nächsten abgelöst, ergänzt, mit anderen in Beziehung gesetzt. Ott überzieht seinen Hölderlin mit einem Geflecht von Wissen und Anspielungen. „Frühe Auseinanderdrift – Was bleibet aber, stiften die Dichter – O meine Lust / Pindarisieren – Forgotten Songs and Unsung Heroes – Wo bleibt Odysseus?“ heißen Vorsätze, die im Kapitel „Tübinger Visionen“ zusammengefasst sind. Hier stellt Ott Grundlegendes zum ideal(ist)ischen „Systemprogramm“ der Tübinger Stiftsschüler vor: Schelling, Hegel, Hölderlin. Auch Hölderlin, der erfolglose, Außenseiter in seinem Leben, ein ewiger Träumer, Dichter, dem die Moderne keine Heimat bieten konnte.
Zum Beispiel Dionysos:
Hölderlin sieht nur Schönes am Werk, wo Dionysos im Spiel ist. Redet Kleist von Wollust, handelt es sich um eine besessene, nicht geistige. Bei Kleist blicken wir in ein dionysisches Pandämonium, Hölderlin macht aus Jesus in »Brod und Wein« einen Gesinnungsgenossen von Dionysos, die beiden feiern friedlich das Abendmahl. Hölderlin verniedlicht Dionysos zu einem lieben Apoll.
Bezeichnenderweise redet Hölderlin so gut wie nie von Dionysos, er redet vom »Gemeingeist Bacchus« und vom Weingott. Das lässt an klirrende Gläser denken und an Mozarts »Entführung«, wo der besoffene Osmin singt: »Vivat Bacchus!, Bacchus lebe, Bacchus war ein braver Mann.« Solche Assoziationen liegen Hölderlin fern, obwohl auch bei ihm gern von Gesang die Rede ist. Exzesse kann man sich jedoch schwer vorstellen in seinem vereinigungsseligen Kosmos. Zwar beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.
Die Rezeption Hölderlins oszilliert, wohl weil sich für rechts wie links Andockstellen finden. „Der bräunliche Hölderlin“ (Kapitel) ist der Hölderlin Heideggers, Jüngers, der französischen Philosophen, etwa Derrida.
Erde, Heimat, Seyn. Keinen anderen Begriffen begegnet man in Heideggers Hölderlin-Deutungen häufiger als Erde und Heimat. Auch von Zugehörigkeit ist viel die Rede und vom Heimischen und Heimischwerden, vom Wohnen des Menschen, vom Bleiben, Stiften und Gründen, vom Eigenen, Eigentum und Eigensten, von Ankunft und Ankommen, vom Aufenthalt und von Heimkunft, vom Schicksal, von der Schickung und vom Schicklichen. Immer wieder taucht bei Heidegger die Wendung vom Eigensten der Heimat auf und von ihrem Einladenden, Aufgeräumten und Eingeräumten, von der unversehrten Erde, dem sachten Bann der allbekannten Dinge, vom Hellen, Heilen und Heiligen, vom Leuchtenden und Lichtenden, von Klarheit und Gesang. Mit Berufung auf Hölderlin weist Heidegger in eine Zukunft, die Abschied nimmt von einem humanistischen Denken, das mit Platon einsetzt, von dort aufs Christentum übergeht und schließlich in die Aufklärung mündet.
Dieses Denken führt in die Seinsvergessenheit. (…)Wenn Heidegger mit Hölderlin die Rückkehr zum Seinsdenken anmahnt, glaubt er, diese Rückkehr könne nur von den Deutschen geleistet werden. Wer meint, philosophische Prinzipien und Postulate zielten auf universale Geltung, wird von Heidegger eines anderen belehrt. Für ihn feiert das Seinsdenken seine Rückkehr im Schwäbischen, vor allem dank Hölderlin und ihm. (…)Jünger ist wie Heidegger überzeugt, wir leben in götterferner Zeit. (…)Jünger geht davon aus, dass sich die gegenwärtige Sinnleere so sehr verschlimmert, dass es eines Tages zum großen Knall kommt. In seiner 1959 erschienenen Schrift »An der Zeitmauer« erklärt er mit Blick auf Hölderlin: »Die mythische Welt ist gegenwärtig, und daher führen ihre Nichtachtung, ihre Verbannung zu wachsender Anstauung und endlich zu Dammbrüchen.« Die Frage nach dem Mythischen und nach Entmythisierung bildet das Hauptthema seiner Tagebücher und seiner Reiseschriften. Am 24. November 1982 notiert er: »Mit dem Rückzug der Götter und der Heraufkunft der Titanen haben mein Bruder Friedrich Georg und ich uns schon früh beschäftigt, sowohl als Leidende wie als Beobachter.«
Während des Zweiten Weltkriegs werden diverse HölderlinFeldauswahlheftchen in großer Auflage an die Wehrmachtssoldaten verteilt, als geistige Nahrung im Tornister. Auch Friedrich Beißner, der Herausgeber der seit r943 erscheinenden Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, stellt ein Büchlein zusammen. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« – solche Verse dienen seelischer Stärkung, nebst allerlei »vaterländischen Gesängen«. Nicht jeder Soldat erinnert sich dieser Lektüre gern. Günter Eich schreibt nach dem Krieg ein Gedicht mit dem Titel »Latrine«, in dem es heißt: »Über stinkendem Graben / Papier voll Blut und Urin, / umschwirrt von funkelnden Fliegen, / hocke ich in den Knien, // den Blick auf bewaldete Ufer, / Gärten, gestrandetes Boot. / In den Schlamm der Verwesung / klatscht der versteinte Kot // Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin. // >Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne -< / Unter den schwankenden Füßen / schwimmen die Wolken davon.«
In den 1960er-Jahren beanspruchen die Linken Hölderlin für ihre Ideologie. Heiner Müler, Peter Weiss, Georg Lukács berufen sich auf ihn, 1975 erscheint der erste Band einer Hölderlin-Ausgabe beim Verlag Roter Stern. “Hölderlins Wahnsinn war für Michel Foucault eine angemessene Antwort auf die Vernunftmaschinen der kapitalistischen Zivilisation, und Philippe Lacoue-Labarthe meinte, dass Hölderlin in seiner Zerrissenheit und seinen ästhetischen Bruchstücken moderner als die Moderne war und die Avantgarde geradezu erfunden hatte.“ (Helmut Böttiger)
Karl-Heinz Ott holt Hölderlin vom linken wie vom rechten Sockel. Er liest ihn genau, dekonstruiert ihn, reduziert ihn auf seine Gedankenwelt,. Die Darstellung ist eher assoziativ als systematisch, die Biografie folgt nicht der Zeit, sie bleibt im Hintergrund, verliert aber dort nicht ihre Wirkung. Oft ist es scheinbar Banales, etwa Hölderlins Geldnot, immer wieder beschworen in den Briefen an seine Mutter. Die Mutter bleibt unnachgiebig, besucht ihren Fritz nicht einmal in seinem Turm in Tübingen. Ott zitiert ausgiebig, stellt Hölderlins “Wohin denn ich?” daneben.
“Hälfte des Lebens – Briefe an die Mutter – Orientalischdionysischer Spinozismus – Foucaults Orient – Wir wunderbar Wahnsinnigen – World-Making – Anything goes – Promille – Mythologischer Liberalismus – Multikulti-Mythologie -Jesus, der Griechenjüngling – Schönheit, Freiheit, Kunst und Staat – Herrschaftsfreier Gesang” lauten Zwischentitel. Man sieht hier Otts Methode des Zusammendenkens und seine „äußerst luzide Bricolage-Technik“ (Helmut Böttiger). „Ein glänzend lesbarer Rundgang durch Hölderlins gedankliches Universum, durch Antike, Mythologie, Pantheismus und Griechenlandverehrung.“ (Aus der Begründung für die Aufnahme in die SWR-Bestenliste)
Die große Vereinigung alles Getrennten. Auf nichts anderes läuft Hölderlins Ostinato hinaus, vor allem in seinen philosophisch angehauchten, meist fragmentarisch gebliebenen Abhandlungen. Hölderlin setzt auf ein mythisch getränktes Weltbild, das die Wunden der Moderne heilen soll.
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