Leïla Slimani:
Das Land der Anderen

Wovor hatte sie fliehen wollen, um so weit zu gehen?
1956 wurde Marokko unabhängig, nachdem nationalistische Rebellen sich vor allem auf französische Staatsbürger wie auch auf Marokkaner einschossen, die auf Seiten Frankreichs im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Amine Belhaj stammt aus Meknès und diente als Offizier in der französischen Armee. Er lernt Mathilde kennen, heiratet sie und nimmt sie vom Elsass in seine Heimat mit. Vom Konflikt der jungen, großen, lebenshungrigen Französin mit der traditionell patriarchalischen Kultur im Marokko der Unabhängigkeitsbewegungen der 50-er Jahre erzählt Leïla Slimani in „Das Land der Anderen“.
Mathilde hat sich das nicht so vorgestellt, dass ihr Leben auf Haus und Kinder reduziert werden soll, dass sie neben ihrem körperlich kleineren Mann, dessen Bruder Omar, der zum Unabhängigkeitskämpfer wird, und der Schwiegermutter zum Objekt, zum Inventar der kargen Farm abseits der Stadt bestimmt ist.
Als Heranwachsende hatte Mathilde niemals gedacht, dass es möglich wäre, ganz allein frei zu sein, es erschien ihr undenkbar, weil sie eine Frau war, weil sie keine Ausbildung hatte, dass ihr Schicksal nicht eng mit dem eines anderen verbunden wäre. Sie hatte ihren Irrtum viel zu spät erkannt, und jetzt, da sie es besser verstand und ein wenig mutiger war, war es unmöglich geworden zu gehen. Die Kinder ersetzten ihre Wurzeln, sie war wider Willen an dieses Land gefesselt. Ohne Geld konnte sie nirgends hingehen, und diese Abhängigkeit, diese Unterwerfung machten sie kaputt. Wie viele Jahre auch vergingen, sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, und es war ihr immer zuwider, es war, als beuge sie sich und gebe sich geschlagen, wofür sie sich selbst verabscheute. Jedes Mal, wenn Amine ihr einen Geldschein zusteckte, wenn sie sich ein Stück Schokolade gönnte, aus Naschlust, nicht aus Notwendigkeit, fragte sie sich, ob sie es verdient hatte. Und sie fürchtete, dass sie eines Tages, als alte Frau auf diesem fremden Boden, nichts besitzen würde und nichts vollbracht hätte.
Nicht nur aus traditionalistischen Gründen, sondern um sie (und sich selbst) vor den immer aufgeheizteren Rebellen zu schützen, zwingt Amine seine Frau sogar, zum Islam zu konvertieren und einen arabischen Namen anzunehmen.
Der Adoul hob den Blick zu Mathilde. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, musterte ihr Gesicht, dann ihre Hände, die sie aneinandergepresst hatte. Schließlich hörte Aicha ihre Mutter auf Arabisch sagen: »Ich schwöre, dass es keinen anderen Gott außer Gott gibt und dass Mohammed sein Prophet ist.«
»Sehr gut«, erwiderte der Beamte, »und welchen Namen wirst du von nun an tragen?«
Das hatte Mathilde sich nicht überlegt. Amine hatte von der Notwendigkeit gesprochen, sich umzubenennen, einen muslimischen Namen anzunehmen, doch in den letzten Tagen war ihr Herz so schwer gewesen, ihr Geist mit so vielen Sorgen beschäftigt, dass sie nicht an ihren neuen Namen gedacht hatte.
»Mariam«, sagte sie endlich, und der Adoul wirkte sehr zufrieden mit dieser Wahl. »So sei es denn, Mariam. Willkommen in der Gemeinschaft des Islam.«
Aber auch Amine zollt Tribut für seine „Liebes“-Heirat. Er, dessen einziges Interesse dem Stück Land gilt, das er von seinem Vater geerbt hatte – „Er hatte Angst, dass er sterben und sein Versprechen, diesen Boden fruchtbar zu machen, nicht einhalten könnte.“ – fühlt sich immer stärker gedrängt, die Zuneigung zu seiner Frau mit national-traditionalistischen Gedanken zu verbrämen und damit selbst gewalttätig zu werden. „Ein paar Wochen zuvor hatte er einen Waffenschein beantragt. Er hatte gesagt, es sei zum Schutz seiner Familie, auf dem Land sei es gefährlich, man könne nur auf sich selbst zählen. Mathilde hielt sich die Hände vor die Augen. Das war das Einzige, was sie tun konnte. Das Einzige, was ihr einfiel. Sie wollte das nicht sehen, wollte den Tod nicht kommen sehen, von der Hand ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder. Dann dachte sie an ihre Tochter, an ihren kleinen Jungen, der seelenruhig schlief.“ Er war in Frankreich ein Held, zurück in Marokko gilt er als Verräter, steht wie Mathilde im „Land der Anderen“, falsch in der einen wie der anderen Welt.
Amine und Mathilde haben zwei Kinder, Tochter Aïcha und Sohn Selim, aber nur von dem Mädchen erzählt Leïla Slimani ausführlicher. Aïcha ist noch zu klein, um zu verstehen, wie sie zwischen diese Kulturen geraten ist und wie sie damit umgehen und leben kann. „Wir sind wie dein Baum – halb Zitrone, halb Orange – wir gehören zu keiner Seite.“ Ein „Zitrangenbaum“. Aïcha geht in eine christliche Schule in der Ville nouvelle, dem europäischen Viertel, das jede marokkanische Großstadt hat, sie hat helles krauses Haar, sie ist Klassenbeste. Sie ist eine in sich gekehrte Siebenjährige. „In ihrem unruhigen Schlaf hatten sie sich in eine Art Tier verwandelt, einen Einsiedlerkrebs, ein in seine Muschel verkrochenes Krustentier. Mathilde drückte ihre Tochter an sich, sie wollte sie verschwinden lassen und mit ihr vergehen. Schlaf, schlaf, mein Kind, das ist alles nur ein böser Traum.“
„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer Familiengeschichte von Leïla Slimani, Mathilde hat als Modell ihre Großmutter. Die gemischt kulturelle Familie gerät in die Wirren der Geschichte und der Politik nach dem zweiten Weltkrieg und in die Zeit der Entkolonisierung des Maghreb. Leïla Slimani zeigt eindringlich, wie sich die Tumulte in die Partnerschaft, die Familien hineinfressen, bis hin zur Verstörung der Kinder. Manche Kapitel, die zunächst wie Abschweifungen erscheinen, etwa die Erzählungen um Amines Bruder Omar, gewinnen ihre Bedeutung in der Verfugung der Ebenen. Die Perspektive orientiert sich am Blick auf die Personen. Slimani erzählt meist sachlich, die Schrecken gewinnen damit an Intensität, auch durch Vergleiche. Im Klappentext steht: „Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.“ Aber so stimmt das nicht. Sie kämpft, doch sie sieht ein, dass sie keine Chance hat, vor allem der Kinder wegen. Der Folgeband mag das korrigieren.
„Das Land der Anderen“: ob die Anderen nun männlich, arabisch, französisch, muslimisch, nationalistisch sind – sie sind jene, die bestimmen, wie die große Geschichte erzählt werden soll, in der wir alle in irgendeiner Rolle vorkommen. Aber Geschichte kann neu erzählt werden, ruft Leila Slimani – und tut es. Dem Antagonismus zwischen „den einen“ und „den Anderen“ setzt sie eine Position des entschiedenen „Dazwischen“ entgegen. Erzählen wird bei ihr zu: neu bestimmen, was zur Geschichte gehört.“ (Judith Heitkamp, BR2)
Glaubte sie es wirklich? War sie zu so einer Frau geworden? Einer von denen, die die anderen drängten, vernünftig zu sein, zu verzichten, die die Achtbarkeit über das Glück stellten? >Letztendlich<, überlegte sie, >hätte ich nichts tun können.< Und sie sagte es sich immer und immer wieder, nicht um zu klagen, sondern um sich von ihrer Machtlosigkeit zu überzeugen und sich weniger schuldig zu fühlen.
2021 – 380Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich
Buchvorstellung bei ttt (ARD) – 6 Minuten
Gespräch und Lesung beim internationalen literaturfestival berlin – 1:15
Mona Ameziane:
Auf Basidis Dach.
Über Herkunft, Marokko und meine halbe Familie.

Basidi ist der Großvater. Nicht nur der Monas. Sondern die allgemeine Bezeichnung. Basidi hat ein Haus mit Dachterrasse in Fès, Marokko. Es gibt auch eine Großmutter, doch die sitzt dement auf dem Stuhl und sagt nichts mehr. Großmütter nennt man Lalla.
Als Basidi stirbt, will Monas Familie zur Beerdigung nach Marokko kommen, doch ihre Mutter, eine Deutsche, hat Probleme.
»Es tut mir leid, dass wir nicht früher hier sein konnten.« Mein Vater sah uns an, schwieg einen Moment zu lange und murmelte dann in Richtung seiner Teetasse, dass das eh nichts geändert hätte. Ich wurde wütend: »Natürlich hätte es was geändert! Ich bin deine Tochter und Mama ist deine Fr-«
»Frauen sind hier bei einer Beerdigung nicht erlaubt, Mona.«
Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Das konnte er nicht ernst meinen. Ich starrte ihn prüfend an. Doch, er meinte es ernst, und diese Erkenntnis schlug ein wie ein zweiter Meteorit. Egal welchen Flieger ich erwischt hätte, egal wann ich hier gewesen wäre, ich hätte nicht bei Basidis Begräbnis dabei sein dürfen? Weil ich eine Frau war?
Mona Ameziane ist 1994 in Marl (NRW) geboren. Ihre Mutter ist Deutsche und hat bei einem Frankreich-Urlaub Monas Vater getroffen, einen als Architekt in Paris lebenden Marokkaner. Sie ist „im Ruhrgebiet aufgewachsen“ (Klappe) und arbeitet zur Zeit als Radiomoderatorin, sie spricht dreieinhalb Sprachen, ist deutsch sozialisiert.
Der wichtige Unterschied zwischen mir und Menschen wie meinem Vater ist jedoch, dass ich im Alltag nicht nur nicht unter meiner Herkunft leide, sondern im Gegenteil sogar beruflich von ihr profitiere. (…) Das Label »jung, weiblich, migrantisch« ist für viele Redaktionen eine Mischung, die mittlerweile in dreifacher Hinsicht interessant klingt. (…) Es ist also durchaus wünschenswert, dass ein*e Journalist*in interkulturelle Kompetenzen hat, dadurch einen breiteren Horizont mitbringt, vielleicht sogar noch eine weitere Sprache, aber bitte keine Grammatikfehler und erst recht keinen Gebetsteppich. Arabischer Name, deutsches Mindset, beste Kombi. Et voilà: C‘est moi.
Sie will ihre marokkanischen Wurzeln kennenlernen, ihre „halbe Familie“. Ihre Cousine erklärt ihr: „Warum findest du dich nicht einfach damit ab, dass du keine Marokkanerin bist? Du bist eine Deutsche mit etwas, das ich höchstens als marokkanische Würzung bezeichnen würde.“
Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie Sterben im Islam funktioniert. Warum auch? Nur die wenigsten Kinder beschäftigen sich ohne konkreten Anlass freiwillig mit kulturellen Differenzen in Sachen Beerdigungsriten, und kaum ein Vater beginnt aus dem Nichts ein Gespräch mit den Worten: »So, meine liebe Tochter, jetzt klären wir mal ganz in Ruhe, was genau die Abläufe sein werden, wenn dein Großvater irgendwann tot ist.«
Im Islam gilt die Regel, dass eine verstorbene Person innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden muss, was nicht viel Zeit ist, wenn man bedenkt, dass Basidi mitten in der Nacht gestorben und der nächste Flug aus Deutschland erst am Mittag gestartet war. (…)
Mein Vater goss sich einen Schluck Tee ein, kippte ihn wieder zurück in die Kanne und fuhr fort:
Diesmal musste ich, in diesem Zustand aus Schock und Erleichterung, an allen vorbei nach vorne und meinen Vater zusammen mit meinem Bruder ins Grab legen.«
»Im Sarg, oder?«, ergänzte meine Mutter.
»Nicht im Sarg«, korrigierte mein Vater.
»Nicht im Sarg?«, fragte ich.
»Nicht im Sarg«, wiederholte er und ergänzte: »Basidi war nackt in ein Tuch gewickelt, und wir mussten unsere Schuhe ausziehen.«
Mona Ameziane erzählt Anekdoten aus ihren Besuchen in Marokko, teils mit ihrem Vater, teils von ihrem Austauschschuljahr bei einer wohlhabenden Familie in Agadir. Im Mittelpunkt steht die Stadt, Fès, eine Fahrt zum abseits gelegenen Dorf im Rif-Gebirge wird wegen des unwilligen Fahrzeugs abgebrochen. Sie widmet sich den oft für sie fremdartigen Zeremonien, etwa des Einkaufens, des Taxifahrens, des Teetrinkens, informiert auch über den dafür nötigen Zuckerimport Marokkos, sie sinniert aber auch über grundlegendere Themen: Alltagsrassismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, über Religion, über die …
… Familie. Darunter fielen in Deutschland mein Leben lang genau sieben Personen: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Großeltern, meine beiden Großtanten und ein Großonkel, über den nur selten jemand gesprochen hat, und wenn, dann schlecht. War ich dagegen in Marokko, weitete sich der Begriff fast automatisch aus und war plötzlich mehr als nur ein Synonym für »enge Verwandtschaft«. Ich bin mir sicher, dass weniger als die Hälfte der Cousinen und Großonkel in LaIlas und Basidis Wohnzimmer tatsächlich mit mir verwandt waren. Nicht mal über zehn Ecken. Aber dem marokkanischen Verständnis nach entsteht Familie nicht nur durch gemeinsame Gene, sondern auch durch gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Probleme oder gemeinsame Grundstücksgrenzen. Vielleicht reicht in einigen Fällen sogar schon ein gemeinsames Mittagessen.
Der Vater im Gespräch übers Deutsch-Sein:
»Was heißt das eigentlich, sich deutsch fühlen? Das verstehe ich nicht. Wie fühlt sich ein Deutscher gegenüber einem Nichtdeutschen? Muss man dafür christlich denken? Nein, weil es Religionsfreiheit gibt. Das heißt, du kannst eine andere Religion ausüben und trotzdem deutsch sein, allerdings musst du dann damit leben können, dass du wahrscheinlich ein paar Sachen anders machst als die Mehrheit. Muss man sich an Regeln halten? Ja, an das Grundgesetz und an die Trennung von Altpapier, Restmüll und Plastik und sobald ein Zentimeter Schnee liegt, schippe ich meine Einfahrt frei, egal wie unnötig ich es persönlich finde. Das macht mich aber nicht zu einem Deutschen. Ich folge nur den Regeln, von denen Deutschland sagt >Lieber Gast, wenn du zu uns kommst, dann mach das bitte.« Aha, jetzt wird’s interessant.
»Fehlt dir manchmal auch eine Tochter, die etwas marokkanischer ist?«
Er setzt zu einem Grinsen an, hört aber sofort wieder damit auf, als er merkt, wie ernst ich bleibe. »Nein. Wieso, hast du das Gefühl, du wärst nicht marokkanisch genug?«
»Manchmal.«
»Aber das ist doch kein festes Kategorien-System, in das man sich einfach einordnen kann, Mona. Du bist so, wie du eben bist, und du hast das Glück, dass du auch Marokkanerin bist. Fertig. Ist doch super. Warum machst du dir da so viele Gedanken drüber?«
Ich schaue ihn verwundert an. Wieso klingt das so einfach aus seinem Mund?
»Ich weiß nicht. Ich frage mich in letzter Zeit zum Beispiel wirklich oft, was anders wäre, wenn wir in Marokko und nicht in Deutschland leben würden.«
Jetzt grinst er doch. »Wahrscheinlich würdest du dann gerade nicht mit mir, sondern mit deiner Mama im Auto sitzen und zum ersten Mal durch ein abgelegenes Gebiet im Sauerland fahren, das du kennenlernen möchtest«, sagt er und fügt noch etwas hinzu, das auch den letzten Rest Schwermut aus dem Auto verdrängt: »Ehrlich gesagt, finde ich es gerade sehr gut so, wie es ist.«
Ein sympathisches, lebendiges, persönliches, versöhnliches Buch. Eine überlegte Mischung aus Reiseimpressionen und dadurch angeregte Gedanken einer jungen Frau. Als Leser fühlt man sich unmittelbar angesprochen, darf teilnehmen, mitbeobachten, mitdenken. „Ihr Buch nun ist ein spannender Hybrid, weil es sich um Identitätsfragen dreht, indem es eine für Deutschland immer typischer werdende Familiengeschichte erzählt. (…) Ihr Buch ist eine Einladung, sich gewissermaßen neben sie zu setzen auf diese Terrasse in der Altstadt von Fès. Und sich einzulassen auf die Eindrücke und die Erzählungen. Gerade dann, wenn man dort lediglich zu Gast ist.“ (Stefan Fischer, SZ)
In Kapitel 17 werden Schafe und Hühner geschlachtet.
»Okay, also hat Lalla früher geschlachtet?«, frage ich und bereue es noch im selben Moment, weil ich die Antwort erahne.
»Nein, das ging nicht …«
»… weil sie eine Frau ist.« Mein Vater nickt.
Mona Amezianes vorgestellte Triggerwarnung: „In diesem Kapitel wird ein Schaf geschlachtet. Einige Szenen sind sehr explizit und es wird viel Blut fließen.“
2021 – 220 Seiten
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Besuch bei Buch: „Auf Basidis Dach“ mit Mona Ameziane (Zwischenmiete NRW) – 35 Minuten (Video)
Willkommen im Virtuellen Museum des öffentlichen Platzes Jemaa El Fna in Marrakesch / Marokko
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