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Marshall Sahlins:
Das Menschenbild des Westens – Ein Missverständnis ?

Marshall Sahlins beginnt – wo sonst? – im antiken Griechenland. Da ist, anders als bei „Naturvölkern, einiges an Geschichtsschreibung überliefert. Der Diskurs startet im Krieg – hier: im Bürgerkrieg – von Kerkyra – und es geht um nicht weniger als um die Stellung des Menschen in und zu der Natur. Darum, ob der Mensch ein Natur- oder ein Kulturwesen ist.
Was bestimmte Philosophen des 5. Jahrhunderts v. Chr. versuchten, war seiner Meinung nach deren Trennung. Genauer gesagt wurden Gesellschaft und Natur als Gegensätze definiert, »ein Ergebnis bestimmter Kontroversen im 5. Jahrhundert über die physis (Natur)und den nómos (Übereinkunft)«. Dort wurzelt der Dualismus, der die natürliche Grundlagefür unser metaphysisches Dreieck darstellt: die vorgesellschaftliche, antisoziale Natur, die dikulturellen Systeme der Gleichheit und Hierarchie zu kontrollieren versuchen.
Politisch war die Frage, ob sich die Gesellschaft als Verbundene selbst organsiert oder ob die ungezügelte Selbstsinnigkeit des Menschen eines Herrschers (König, Tyrann, Diktator, …) bedarf, um gemeinsam überlebens- und handlungsfähig zu bleiben.
„Die alten Königreiche, die von einem Palast aus von oben herab, privat, mit Zwang und auf mythische Weise legitimiert regiert wurden, wandelten sich schließlich zur Polis, in der die Regierungsmacht kollektiv, gleichberechtigt und öffentlich den Bürgern übertragen war. Sie versammelten sich öffentlich im Zentrum der Stadt (auf der Agora) und bestimmten in vernünftigen Diskussionen die politische Linie, die ihren Eigeninteressen ebenso wie dem Staat zugutekam — wenigstens dem Prinzip nach war es so.“
Später sieht es Hobbes so: „Angeleitet von Vernunft und getrieben von Furcht beschließen die Menschen letztendlich, ihr persönliches Recht auf Gewaltanwendung an eine souveräne Macht abzutreten, die dieses zugunsten des kollektiven Friedens und der Verteidigung ihrer Interessen vertritt. Auch wenn diese souveräne Macht eine Volksversammlung sein könnte, stand für Hobbes doch fest, dass nach der Erfahrung der parlamentarischen Selbstüberhöhung »ein König sinnvoller ist«.“
Sahlins verfolgt das Dilemma dann durch die Jahrhunderte: Er reflektiert „Die Monarchie des Mittelalters“ und „Die Republiken der Renaissance“, wühlt sich ein in die „Gründerväter“ des jungen Amerika und in den libertären „Egoismus“ vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. „Koryphäen wie Samuel Johnson, Jonathan Swift, Bernard Mandeville und zahlreiche weniger große Denker hatten als Ego-Systematiker in der Tat die radikal-sophistischen Vorstellungen erneuert, denen zufolge hinter allen sozialen Handlungen, auch hinter den scheinbar tugendhaften und mildtätigen, natürliche Begehrlichkeiten nach Macht und Besitz stecken. »Unsere Tugenden sind meist nur verkappte Laster«, lautet das Motto von La Rochefoucaulds viel gelesenen Maximen. „Der Egoismus kommt moralisch wieder auf die Beine.“ Sahlins will das nicht stehen lassen und sucht nach „Andere[n] Welten des Menschen“. Die Natur als ebenbürtiger Partner des Menschen, so wird das Über-Gewicht des Menschen reduziert bzw. relativiert und damit die Vorrangstellung des „Westens“ korrigiert. Sahlins zitiert eine Vielzahl anthropologischer Befunde aus allen Teilen der Welt. Nicht nur der Mensch ist Maßgröße, auch Tiere, auch Pflanzen, auch Wetterphänomene bestimmen die Vorstellungen vom Leben und von Gesellschaftlichkeit.
Marshall Sahlins findet seine Ruhe in der Synthese. Nicht mehr physis contra nómos, nicht mehr die Natur als latent Böses, das beherrscht werden muss, sondern der „Mensch als kulturelles Wesen von Anfang an: „Die menschliche Natur ist die Kultur.“ Nun, dann müssen auch Vernunft, Vorstellung, Berechnung, Kunst und Gesetz ursprünglicher sein als Hartes und Weiches und Schweres und Leichtes, und ebenso werden dann auch die großen und ursprünglichen Schöpfungen eben als solche Werke der Kunst, was jene Leute aber Werke der Natur und die Natur selbst, die sie (eben) hiernach fälschlich mit diesem Namen nennen, werden etwas Späteres und von der Kunst und Vernunft Abhängiges sein.“ Marshall Sahlins führt ausführlich durch die Entwürfe eines „Menschenbilds des Westens“, das sich in abwechselnden Phasen von gesellschaftlicher Herrschaft durch Macht von oben zur Einhegung der eigensinnigen Gewaltbereitschaft des Menschen (Hobbes) und der Gegenthese von einer genuinen Solidarität, die sich in einem republikanischen oder demokratischen Gesellschaftsvertrag realisiert. Gegenmodelle zum westlichen Menschenbild werden in einem Kapitel eher knapp dargelegt, sie zeigen einen Kontrast, aber keine begründete Einschränkung oder Widerlegung. Das Fragezeichen nach dem „Missverständnis“ ist eher plakativ, die erwartete Antwort wird nicht eingelöst.
Der Verlag Matthes & Seitz publiziert das Buch in der Reihe »Fröhliche Wissenschaft«. Ein Missverständnis?
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Anne Applebaum:
Die Verlockung des Autoritären.
Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Anne Applebaum verspricht im Untertitel die Antwort auf die Frage, „warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“. Die Antwort finde ich nicht. Ja, es gibt einige gut gemeinte Gemeinplätze, die sie, wie fast immer, an Personen festmacht.
Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.
Von vielen dieser Freunde erzählt sie und stellt – erstaunt? – fest, dass sie sich geändert hätten, zu Reaktionären geworden seien, während sie, Applebaum, eine liberal-konservative Demokratie verteidigt. Weshalb aber war sie früher mit so vielen Rechten befreundet?
Im August 2019 luden wir zu einer Party ein. Diesmal war es ein Sommerfest, und die Gäste unternahmen keine Schneewanderungen und Schlittenfahrten, sondern sonnten sich auf der Wiese und schwammen im Pool. Statt eines Feuerwerks hatten wir ein Lagerfeuer.
Menschen, die in einem abgelegenen Winkel Polens lebten, unterhielten sich prächtig mit Menschen, die anderswoher kamen. Wie sich herausstellte, können Menschen mit grundverschiedener Herkunft ausgezeichnet miteinander auskommen, denn die »Identität« der meisten Menschen geht weit über diese einfachen Gegensatzpaare hinaus. Es ist möglich, an einem Ort verwurzelt und dennoch weltoffen zu sein. Es ist möglich, gleichzeitig regional und global zu denken.
Anne Applebaums Begriffe von Politik und Ideologie sind unpräzise. Was ist „Demokratie“? Was ist die „Größe“ einer Demokratie? Was kann am Konservatismus „großzügig“ sein? Wasv ersteht man unter „bürgerlich“? Was ist rechts und links?
„Mancherorts wurde die Angst vor der Krankheit und anderen Aspekten der Moderne zur Inspiration für eine neue Generation autoritärer Nationalisten. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein. (…) „Im besten Falle war dieser Konservatismus dynamisch, reformfreudig und großzügig, er gründete auf einem Vertrauen in die Vereinigten Staaten, in die Größe der amerikanischen Demokratie und auf dem Ehrgeiz, diese Demokratie mit dem Rest der Welt zu teilen. (…) In den letzten Jahren gingen einige Haltungen der alten marxistischen Linken, allen voran ihr Hass auf bürgerliche Politik und ihre Umsturzfantasien, eine sonderbare Verbindung mit der Verzweiflung der christlichen Rechten angesichts der Zukunft der amerikanischen Demokratie ein.“
Zum antidemokratischen Populismus wird man verführt durch Geld, Ruhm und Macht, es gibt in Ländern, die jahrzehntelang von einer fremden Macht unterdrückt worden waren, offenbar eine tiefverwurzelte Sehnsucht nach nationaler Identität, zugrunde liegt meist die „autoritäre Veranlagung“.
Anne Applebaum belegt ihre Erzählungen mit Gedanken von Theoretiker der Geschichte, auch Hannah Arendt taucht auf. Viele zeitgenössische Intellektuelle, Schriftsteller, Politiker kennt sie selbst, vor allem aus Polen und den USA.
„Meines Erachtens ist der nach der Lektüre gewonnene Eindruck, Applebaum betrachte die politischen Umbrüche lediglich anekdotisch statt analytisch, weitaus kritikwürdiger. Sie bietet keine Begriffserklärungen und ihren Ausführungen fehlt die argumentative Stringenz. Zweifellos kamen die Rechtspopulisten durch die Unterstützung etablierter konservativer Kräfte an die Macht. Doch wann genau haben Politik- und Demokratieverachtung begonnen und was sind die spezifischen Gründe für die sich weiter radikalisierende autoritäre Entwicklung, die wir ausgerechnet in den letzten Jahr(zehn)ten beobachten können? Nicht nur kann die Autorin auf diese Fragen keine neuen Perspektiven oder Überlegungen, geschweige denn überzeugende Antworten liefern, auch der Ausblick, Demokratie müsse im digitalen Zeitalter neu gedacht werden, bleibt unbefriedigend und schwammig.“ (Frauke Hamann: Eine Milieustudie des eigenen Umfelds – Soziopolis)
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Julia Friedrichs:
Working Class.
Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.«

Julia Friedrichs fährt durchs Land und spricht mit Menschen. Sie hört genau zu, schreibt die Antworten zusammen und bündelt sie. Sie ist empathisch. Ihre Erkenntnisse vergleicht sie mit Statistiken und Auskünften von „Experten“. Ihre Themen sind: ARBEIT – wie ist sie organisiert, wie wird sie entlohnt, welche Perspektiven bieten sich? GELD – Wie hoch und regelmäßig sind die Löhne, welches Leben kann man sich vom Einkommen leisten, wie sind die Aussichten auf die Zukunft? LEBEN – Kann man zufrieden sein?
Julia Friedrichs‘ Stationen auf den Erkundungen: Alexandra und Richard, zwei überwiegend freiberufliche Musiklehrer. Sait, Putzmann bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Reza Eskats, Pächter des „Zapfhahns“ im Untergeschoss eines Karstadt-Warenhauses. Man trifft sie immer wieder, begleitet sie durch die Zeiten.
Alle Arbeitsverhältnisse ähneln sich: Das Geld reicht gerade mal so aus, „Luxus“ ist nicht drin, Zurücklegen kann man nichts, auch wenn Krisen absehbar sind, die Arbeit wird zunehmend verdichtet, auch durch Privatisierung und Outsourcing, Zugehörigkeiten (zum Betrieb, zu Kollegen) schwinden. Man vereinzelt, auch der Einfluss von Gewerkschaften geht verloren. Julia Friedrichs referiert wichtige Studien zur polit-ökonomischen Entwicklung, sie ist kritisch, bezichtigt sich der „chronischen Zuversicht“,
Der Blick geht zurück in die 1980er Jahre, fast nostalgisch, bis in die Corona-Zeiten. Julia Friedrichs erinnert sich an Familienserien von damals, als die Arbeiter nach Karstädter oder Siemensianer sein wollten, als man noch an eine bessere Zukunft für die Kinder glaubte, als man nach vorne schaute, ohne zu heulen. Die Pandemie hat die prekäre Lage nicht erschaffen, aber beschleunigt und verschlimmert. Und die Politik? Julia Friedrichs trifft Wolfgang Schmidt, 2021 noch Staatssekretär im Finanzministerium (ab Herbst 2021 Bundesminister für besondere Aufgaben/Chef des Bundeskanzleramtes, engster Vertrauter von Olaf Scholz). Sie erzählt ihm von Alexandra, Sait, Reza und den anderen aus der working class.
Julia Friedrichs „machte es schon damals kirre, weil er die ökonomische Unwucht zugunsten der Vermögen und zuungunsten der working class zuvor detailliert beschrieben hatte, aber bei der Frage nach den Gegenmaßnahmen das ganz kleine Karo wählte. Politik, sagte er schon da, hieße, Probleme Stück für Stück zu verbessern, Meter für Meter, meist Zentimeter für Zentimeter. Aber reicht das? Verlangt der Umbruch der letzten Jahrzehnte nicht entschiedeneres Dagegenhalten? Lässt sich die Kluft in den Vermögen, die Ungleichheit im Bildungssystem, die Unwucht zugunsten wohlhabender Älterer wirklich mit dem Verstellen von ein paar Schräubchen beseitigen? Deutschland ist in den vergangenen Jahren von seiner politischen Klasse gut und vernünftig verwaltet worden, besser als viele andere Länder.
Aber lässt sich eine Gesellschaft wirklich in eine bessere Zukunft steuern, wenn vor allem dafür gesorgt wird, dass die nächste Tagesetappe gut verläuft? Müsste man nicht viel mehr darüber reden, wo man am Ende hinwill?“
Das Buch kommt mir vor wie ein TV-Feature, bildhaft, lebensnah, kritische Fragen, mehr Zeit für die Menschen und den Leser zum Mitdenken und sich gedanklich einmischen.
Und wenn die Welt sich wieder dreht, hoffe ich, mit möglichst vielen von euch bei Reza Eskafi im »Zapfhahn« anstoßen zu können.
2021 – 315 Seiten
Thomas Hüetlin:
Berlin, 24. Juni 1922.
Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland

Am 24. Juni 1922 wurde in Berlin der Außenminister der Weimarer Republik ermordet. 100 Jahre ist das her und doch – wieder – aktuell, denn 2022 gibt es Mordpläne (‚Todeslisten‘) gegen Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens.
1922 operierten die Täter in „geheimen“ Gruppen wie der „Organisation Consul“, die sich aus ehemaligen Kriegskämpfern, Protofaschisten und weiteren Gesindel rekrutierte. Das Reichswehrministerium unter Gustav Noske (SPD!) alimentierte die „Freikorps“ in ihrem Hasskampf gegen die Demokratie.
2022 organisieren sich potenzielle Attentäter über verschwiegen-öffentliche Medien und breiten ihre Pläne in Hass-Postings aus. Die Lage der Demokratie wird kritischer, seit wutbesoffene Bürger sich ihre Frust-Rationen auf den Straßen von der Seele brüllen und Demokratie als totale Herrschaftsform verdammen. Es gab schon Tote, doch lässt sich der Aufruhr noch einhegen, zumindest wenn die Verwaltung auf der Hut ist.
1922 sahen die „Freikorps“ Gleichgesinnte in Politik und Justiz, die über- und verkommenen Reste von Adel und illiberalem Bürgertum betreiben das Geschäft der Restauration.
Thomas Hüetlin erzählt nicht nur die historischen Abläufe, er beschäftigt sich auch mit Struktur, Gedankengut und Aktionen der „Geheimbünde“.
Man musste glauben. Vor allem Kern. Er hatte das Charisma. Er hatte via Hoffmann, dem Stellvertreter Ehrhardts in der Organisation Consul, grünes Licht erhalten, Politiker wie Scheidemann und Rathenau zu ermorden, um einen Umsturz von links zu provozieren.
Was zählte, war nicht die Ratio, was zählte, war die Tat.
Das nackte knallharte Tun — das war es, was Kern glorifizierte. Die gewalttätige Tat, die ruhig auch böse sein durfte.
Denn diese Tat gehorchte gewissermaßen höheren Mächten. Diese Taten flossen aus den Attentätern heraus. Durch sie hindurch. Die Attentäter waren laut Kern nur die Vollstrecker eines höheren Gesetzes. Einer Art altgermanischer Sendung. Oder, wie von Salomon es ausdrückte, die Gewalt, die sie trieb, war »Ausfluß mythischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit all seinen Methoden nicht ausreichen konnte«.
So gesehen war alles möglich — und auch alles erlaubt, wenn nur Kern es befahl.
Die Demokraten, das waren für Kern nichts als Leute, die mit »wirrem Gelärm«, wie er von Salomon in der Pension »Am Zirkus« erklärt hatte, Räume füllen. Irgendwelche unwichtigen Räume. Nicht die »Felder der Entscheidung«. Die lägen »hinter dem breiten Gürtel des Dickichts, durch das wir uns mit harten Schlägen hauen. Da werden wirdann stehen«. (…)
Es waren raunende Worte. Gewalt. Pathos.
Weshalb Rathenau? »Ich habe die Absicht, den Mann zu erschießen, der größer ist als alle, die um ihn stehen«, sagte Kern. »Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muss.« Rathenau habe die bitterste Kritik der Menschen und der Mächte seiner Zeit geschrieben, meinte Kern. »Und doch ist er Mensch dieser Zeit und hingegeben diesen Mächten. Er ist ihre reifste, letzte Frucht, in sich vereinigend, was seine Zeit an Wert und an Gedanken, an Ethos und an Pathos, an Würde und an Glaube in sich barg.«
Es war das übliche schwülstige Wortgeschiebe, das Kern wie Weihrauch produzieren konnte. Dem Mordanschlag einen Heiligenschein verpassen. (…)
Rathenau verkörpere für viele Deutsche die Hoffnung auf Frieden, auf Kooperation mit den Siegermächten, auf den Wiederaufstieg des Reichs in einer marktwirtschaftlichen Ordnung. „Der linkskatholische Reichskanzler Joseph Wirth machte ihn 1921 zum Wiederaufbauminister und einige Monate später zum Außenminister. In dieser Funktion ist sein Name vor allem mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo verbunden. Wichtiger war für Rathenau selbst das Ziel, sich mit den westlichen Siegermächten zu verständigen und so gemeinsam das vom Weltkrieg gezeichnete Europa wiederaufzubauen.“
In Rathenau wirkte ein geradezu preußisches Pflichtgefühl samt einem stählernen Ehrgeiz. Im Krieg zuständig für die Rohstoffversorgung des Landes, hatte er aber nie einem Regierungskabinett angehört und das ersehnte Licht der allerersten Reihe im Staat genossen.
Rathenau verkörperte in Perfektion all das, was von Salomon und Kern ablehnten, hassten und bekämpften.
Ausgleich.
Frieden.
Demokratie.
Gekonnte Ökonomie.
Verbindliche Bindung an den Westen.Es war jedenfalls ganz und gar nichts Religiöses. Im Leben der Familie Rathenau spielte die prachtvolle 1866 fertiggestellte Synagoge in der Oranienburger Straße keine nennenswerte Rolle, weder für Erich noch für Walther wurde eine Bar-Mizwa gefeiert, Walthers Hebräisch war bestenfalls rudimentär und fehlerhaft.
Emil galt als »liberaler Jude«, und die Verfassung des Reichs von 1871 hatte die Juden formal gleichgestellt. Trotzdem konnte von Gleichstellung, wenn es um wichtige Ämter innerhalb des Staates ging, nicht die Rede sein. Eine Karriere als Offizier oder Reserveoffizier der Armee war einem Juden versperrt, ebenso eine Laufbahn im höheren Beamtentum. Verglichen mit Ländern wie Frankreich oder Russland, fühlten sich die meisten Juden in Deutschland jedoch trotzdem einigermaßen sicher und so gut aufgehoben, dass sie Vertrauen in ihre Zukunft und die ihrer Kinder hatten.
Trotz dieser formalen Gleichberechtigung war der Antisemitismus im Deutschen Reich nie weg — und das Tempo der zweiten industriellen Revolution ließ ihn sogar stärker werden. »Der jüdische Geist« wurde für viele Zumutungen der kapitalistischen Modernisierung und Ausbeutung verantwortlich gemacht, ein böses Phantom, das angeblich auch hinter den Gegenprogrammen zum Kapitalismus stand, hinter Sozialismus und Marxismus.
Eine Geschichte von unerwidertem Patriotismus und Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von verstecktem Stolz und aristokratischer Eitelkeit, von der Überzeugung, dass die alten preußischen Eliten unfähig seien, die neuen Kader aus der Arbeiterbewegung überfordert.
Eine Geschichte, die auf ihn zulief, auf ihn, Rathenau.
Im Jüdischsein potenzierte sich Walthers Entfremdung. Eine Karriere, wie sie seine Klassenkameraden anstrebten, an die Schalthebel der politischen, exekutiven und militärischen Macht, blieb ihm als Juden verstellt, und diese Apartheid deutscher Prägung brannte sich dem begütert Heranwachsenden fest ein. Das Geld war sein Schicksal, es war Sicherheitsrelais und Garant einer gewissen bürgerlichen Freiheit. Aber als Jude stigmatisierte einen Geld auch. Er war gefangen in einem gut ausgestatteten Käfig.

Hüetlins Buch erzählt nichts Neues. Er erinnert zum 100. Jahrestag an eine Zeit, die geprägt war von den überkommenen deutschnationalen „Eliten“, die mit der Demokratie nichts anzufangen wusste, die, auch über nicht beigelegten transnationalen Konflikten, tief gespalten war und keine Strukturen und kein Wissen besaß, wie mit den Antagonismen umzugehen war. Die Rechten waren die irrational raunenden Generalverlierer, die Linken hatten zu wenig Basis und keine Verbündeten in Gesellschaft und Regierung. Rathenau sollte nach außen vermitteln, die Verluste des Krieges neu verhandeln, er war integer, aber kein Mann des Volkes, ein Jude, der deutsch-patriotisch dachte, der Juden verachtete, ein Politiker, der aus der Wirtschaft kam und für die Wirtschaft arbeitete. „Ein komplizierter Mann!“
Der Welthandel liege darnieder, so Rathenau, der Versailler Vertrag habe dessen Organismus zerschlagen. In Amerika wüte die Arbeitslosigkeit, Kohle, Baumwolle, Kupfer lagerten dort im Überfluss. In Russland herrschten Hunger und ein Verlangen nach Produkten, die andere nicht loswürden. Dabei seien die Völker voneinander abhängig, gefesselt durch eine »Kette materieller Verschuldung« und die allgemeine Entwertung des Geldes. Dieser Zustand, so Rathenau, müsse überwunden werden durch eine planmäßige Wiederherstellung des wirtschaftlichen Weltorganismus.
Hüetlin stellt Rathenaus Herkunft, sein Denken und seine politischen Ansichten anschaulich dar und mahnt auch die heutige Gesellschaft vor einem Neu-„Beginn des rechten Terrors“.
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Durs Grünbein:
Jenseits der Literatur
(Oxford Lectures)

„Jenseits der Literatur“ räumt ein, dass es hinter/zeitlich vor der Literatur Phänomene gibt, die sich nicht als Fiktion verstehen lassen, die eigene „Wahrheiten“ generieren, bei denen es aber helfen kann, sie mit Mitteln der Literatur zu betrachten, zu beschreiben. „Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt. (…) Fragt man mich heute nach einer Poetik, würde ich antworten: Wir bemühen uns um eine Photosynthese der Worte und der Bilder. Die Worte arbeiten an der Überlieferung, die Bilder erreichen uns immer aus einer kleinen Zukunft, die schnell Vergangenheit wird. Gemeint sind die Bilder aus allen Medien, die uns täglich als Schockerfahrung des Realen überrollen und bis in die Träume hinein wirken.“
Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit fast 30 Jahren einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. 2019 war Durs Grünbein an der Reihe. Er befasste sich in 4 Vorträgen mit dem Wechselspiel zwischen (deutscher) Geschichte und den Personen, die diese im Land erfahren, ob als Individuum oder im Plural: als „Volk“. Als Beispiele griff er griff er Inszenierungen des Völkischen heraus: „Die violette Briefmarke“ – das Wertzeichen zum Aufkleben auf Briefe mit dem Kopf des „Führers“. Die „Landschaft in Banden“ – Das Mega-Bauwerk der Autobahnen als Symbol der völkischen Fahigkeiten. „Im Luftkrieg der Bilder“ – das Betrachten der Todeserfahrung einer Nation, u.a. mit den augen von Hannah Arendt. Der 4. Teil stellt sich die Frage, ob die Geschichte mit Literatur erfasst werden kann, speziell in Zeiten umfassender Überwältigung: „Für die sterbenden Kälber“ (Karl Philipp Moritz). In allen Betrachtungen ist das Subjekt enthalten, der Literat, Durs Grünbein als aufgeschrecktes Kind und als spät geborenes „Kalb“, welches der Geschichte keine Ruhe lassen darf, damit sie nicht mit Vergessen erledigt wird. Durs Grünbein wendet sich „unverhohlen gegen die regressiven bis revanchistischen Tendenzen der deutschen Gegenwart“. (Kai Sina, FAZ)
An Flucht aus der Zeit ist nicht zu denken, auch nicht an eine Flucht nach innen, denn auch dort holt Geschichte noch jeden zuverlässig ein. Vielmehr, sie geht als Gewaltgeschichte durch ihn hindurch und prägt sich mit ihren Daten den Körpern ein. Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt, die Literatur als »Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«.
Der totalitäre Staat ist total im Kleinen wie im Größten, total im Schaffen wie im Zerstören.
„Die violette Briefmarke, längst entrückt, plötzlich war sie wieder da, wurde größer und kleiner und oszillierte zwischen einer brutalen Nähe und einer schwindelerregenden Ferne. In dem Fetzen zähnchenumrandeten Papiers war sie greifbar geworden, die Formel vom Einzelnen und der Masse. Die violette Marke mit dem Profilbild des »Führers« war ein Abgrund, der jederzeit aufbrechen konnte. Hier der Einzelne als serielle, graphische Nummer, der Mann aus dem Wiener Männerheim, die inferiore Gestalt, ein Namenloser, einer unter acht Millionen, wie er sich selber in seinem Kampfbuch beschrieben hatte, und da ein Volk aus lauter Habenichtsen und Enttäuschten, die ihn, die gescheiterte Existenz, als einen aus ihrer Mitte an die Spitze gehoben hatten — eine Masse, die ihrerseits aus lauter Millionen Namenloser bestand. Die Briefmarke stand für den zufälligen Einen, den Einzelnen, der sich zum Medium der Vielen gemacht hatte, die ihn schließlich, auf dem Höhepunkt seines kometenhaften Aufstiegs, als Musterfall charismatischer Herrschaft.“
Tausende Kilometer baulich integrierter Natur, Einbeziehung der heimatlichen Landschaften von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt — ein raumumspannendes Werk, das für sich selber sprach. Selten ist die Saat nationalsozialistischer Propaganda so überwältigend aufgegangen wie beim Autobahnbau. Der neue Staat rief, und das arbeitsuchende Volk, das eben noch stempeln ging, war nun erfaßt in der »Deutschen Arbeitsfront«, strömte herbei zu den Baustellen des Landes von der Nordsee bis zu den Bayerischen Alpen. Die Autobahn war das Werk vieler Tausender williger Helfer, ein Traumprojekt totalitärer Planung. Was galt es schon, daß keiner der in den Wirbel Hineingerissenen sich jemals frei fühlen konnte, daß alles nur Aufschub war,Vorbereitung zum nächsten geplanten Revanchekrieg, für den es die Autobahnen brauchte als Mittelzur raschen Truppenverlegung. Wozu es dann aber doch nicht kam, weil die Deutsche Reichsbahn, anders als heute, diese Aufgabe viel reibungsloser erfüllte.“
„Auf ihrer Reise durch Süddeutschland sieht Hannah Arendt die zerstörten Städte, sammelt Impressionen und spricht mit den Leuten, wie eine gute Reporterin es tun würde. Sie trifft auf Karl Jaspers und Martin Heidegger, ihre Lehrer und Weggefährten, aber nicht davon handelt der Bericht. Sie konzentriert sich auf die Stimmung der Überlebenden, das verschüttete Innenleben der Ausgebombten, die durch die Trümmerlandschaft ameisengleich ihrer Wege gehen. Sie bemerkt den Schatten tiefer Niedergeschlagenheit, der über diesem Volk liegt, fragt nach den Auswirkungen des Krieges und versucht, den Alptraum, den ein physisch, moralisch und politisch ruiniertes Deutschland dem Rest der Welt hinterließ, zu deuten. Von heute aus scheint es, als habe es in diesen Tagen nur diese eine gegeben, die sich den Verstand einer modernen Pallas Athene bewahrt hatte. Da ist ein Ton, den man in solcher Klarheit bei keinem ihrer akademischen Kollegen seinerzeit findet, mit Ausnahme der Vertreter der Frankfurter Schule, die vieles davon vorausgedacht hatten.“
„Der Ton ist dabei über weite Strecken nüchtern und sachlich, zum Teil auch sehr persönlich und immer wieder thetisch zugespitzt, weshalb einige Aussagen unvermeidlich Rückfragen, möglicherweise auch Widerspruch provozieren werden – fair enough. Mit seinen im besten Sinne engagierten Lectures leistet Durs Grünbein seinen Teil gegen die fatale Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft.“ (Kai Sina)
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