Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2023/1
24. Januar 2023, 16:52
Filed under: - Sachbuch

Knut Cordsen:
Die Weltverbesserer.
Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?

„Das Jahrhundert des Aktivismus“ beginnt nicht mit den Klimaklebern. Knut Cordsen hat sich eine detaillierte Übersicht verschafft über das Treiben von Leuten, die nicht auf die zähe Reform von privaten und Welt-Angelegenheiten warten wollen (oder können), sondern ihren Idealen nur im Jetztgleich eine Chance auf Realisierung geben müssen. Das meint „Aktivismus“   und Knut Cordsen offenbart schon im Untertitel seine verhaltene Sympathie: „Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?“ (Könnte da nicht auch ‚braucht‘ statt ‚verträgt‘ stehen?) Eine Prise davon will er ihr wohl zugestehen, zu viel will er aber nicht erlauben, sonst, so heißt das, könne „unsere“, also auch seine Gesellschaft, darunter leiden. „Jesus! Wird da der eine oder andere ausrufen, geht es denn nicht ein paar Nummern kleiner?“

Als Urvater des Aktivismus zieht Knut Cordsen Kurt Hiller durchs Buch.

Der Resolutionär Hiller, dessen »kraftschreierische« Prosa der marxistische Philosoph Georg Lukäcs später zu Recht in ihrer »blechernen Monumentalität«   als »fanfarenhafte Überheblichkeit« brandmarkte, machte hier einmal nicht den Fehler, »von der Wirklichkeit wegzuabstrahieren« (Lukäcs), sondern zu benennen, was sein sollte. Der verabschiedete »Vorläufige Dogmenkatalog   des Aktivismus« ist ein eindrucksvolles Dokument    anti-demokratischen Denkens. Das Ziel war klar für Hiller: »Herrschaft des geistigen Typus über den Pöbeltypus«. Deshalb ist 1919 auch eine der »drei Hauptforderungen aktivistischer Politik« neben Pazifismus und Sozialismus (»Man kann nicht Aktivist sein, ohne Sozialist zu  sein.«) — »Aristokratismus«. Der »Weltbesserer« hält sich für etwas Besseres und formuliert also in unverhohlener »Vonobenherabheit« (Hiller) seine Abscheu vor allem »Demokratismus   (Ochlokratismus)«. Snobistisches verachtet »Mobistisches« (auch so eine Hiller’sche Wortkreation, an Neologismen mangelte es ihm wahrlich nie).

Ausgehend von dieser kritisch betrachteten Basis führt Cordsen durch ein ganzes „Florilegium“ von Aktivist:innen. Von öffentlichen Strickerinnen („selbstgestrickte pinke Pussy Hats“ –  Knut Cordsens Kommentar ist typisch ironisch“: „rosafarbene Wolle wurde knapp“), weiter zur Solo-Aktivistin („im Dürre-Sommer 2018“) Laktivistinnen bis zu Peter Handke: „Ein friedliches in-sich-Schauen: der ideale Aktivist“. Cordsen mischt sich in den Streit zwischen Journalisten und Aktivisten: Darf der Journalist Stellung beziehen, zur Tat aufrufen? Karl Kraus vs. Egon Erwin Kisch, die Spur führt zum Blogger Rezo, „rund hundert Jahre später“ zur Zerstörung der CDU aufrief.

Weitere Kapitel fragen nach Sympahisanten oder Gegner des Aktivismus in der Kunst:

„Was tun, sprach Beuys. Über Artivismus“ – oder der Wissenschaft: „Der Gelehrte als Gefährte“. Neben Phasen aktivistischen Glimmens sind einige Momente der Zeitgeschichte hervorgehoben, in denen der rigorose Idealismus aufflackerte: etwa die „Studentenrevolte 1968“. Cordsen erhellt die Auseinandersetzungen zwischen Ernst Bloch, Rudi Dutschke, Jürgen Habermas (‚infantile Scheinrevolution‘), Hans Magnus Enzensberger (»Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente   vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt.« Cordsen: „So redet ein unabhängiger Geist. Kein Akivist.“

Knut Cordsen im Interview: „Ich glaube, den liberalen Aktivismus. Einen, der kritikfähig ist, der seine Ziele nicht doktrinär verfolgt und Andersdenkende nicht ausgrenzt. Er muss offen bleiben und darf nicht „grimmig“ werden, wie Karl Raimund Popper es mal genannt hat.

Cordsen hätte gerne einen Aktivismus light, eine Radikalität à la SPD, einen, der bei Widerständen mit sich reden lässt, einen Aktivismus, der keiner mehr ist. Trotzdem sind die „Weltverbesserer“  informativ, subjektiv, mit „unabhängigem Geist“, ironisch engagiert. Schön zu lesen.

Thorsten Jantschek spricht mit Knut Cordsen
über sein Buch „Die Weltverbesserer“
(ZDF – 9 Minuten)

Knut Cordsen: „Der heutige Aktivismus hat ein weibliches Gesicht“ – FR Gespräch mit Bascha Mika


Jens Balzer: Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Von den 50er-Jahren bis heute

Vielleicht ist es nur dann oder dann besonders interessant, wenn man die beschriebene Zeit miterlebt hat und die Texte mitsummen kann. Von den 50er-Jahren bis heute. Jens Balzer ist 1969 geboren, hat sich den „deutschen Pop und seine Sprache“ der Frühzeit indirekt einverleibt.

Einverleibt hat sich der deutsche Schlager auch die „Rebellion“: Das „Fernweh“ gründete auch bei Freddy Quinn auf der „Heimat“, den Rock’n’Roll nationalisierte Peter Kraus und das spätere Schlager-Englisch verlor durch Unverständnis oder durch verschmalzende Harmonien jegliches Protestpotential. „Liedermacher und Rocker entdeckten das Deutsche wieder“, ihre Resonanz war aber eher bescheiden und blieb in der Blase.

»In der Bar sah ich Lou / Und war verliebt im Nu / Denn so einen Swing, den gab’s noch nie / Kein Mädel rockt und rollt wie sie.« Wobei die überwiegende Mehrheit des deutschen Publikums weder verstanden haben dürfte, dass »rocken und rollen« als Synonym für den Geschlechtsverkehr diente, noch dass »tutti frutti« eine Bezeichnung für große prächtige Frauenbrüste war. Generell wurde in diesen Jahren im Schlager der Sound des Rock ’n’Roll zwar aufgegriffen, doch zunächst von Komponisten, Textern und Produzenten, die schon lange im Geschäft tätig waren und ein Interesse an der Entschärfung der Musik und der Inhalte hatten, um im gegenüber der US-amerikanischen Popkultur immer noch reservierten Deutschland kommerziell erfolgreich zu sein. So war die Peter-Kraus-Version nicht nur weniger, sondern überhaupt nicht sexuell aufgeladen und auch langsamer und weniger wild.

Jens Balzer nudelt sie alle durch und präpariert aus der Sprache – in vielen Zitaten – die Ideologien in ihren Wechselspielen heraus: Seitenblicke auf die „Beatmusik in der DDR“, den „kosmopolitischen Krautrock“ der 1970er-Jahre, die Wiederentdeckung des Dialekts und des Regionalen, auf „migrantische … Musik aus der Fremde“ ergänzen das Spektrum. Das abschließende Kapitel über „reaktionären Rap“, die Hamburger Schule“ oder Rammstein bleiben mir infolge Altersüberschreitung eher fremd, auch in ihrer potenziell sprach-bildnerischen Relevanz. Jens Balzer wertet nur indirekt, indem er die vorgestellten und einander kontrastierenden Phrasen auf ihre Abgrenzung von reaktionären Ideologien befragt und das „rebellische“ Potenzial untersucht.

Das letzte Kapitel untersucht die „kulturelle Aneignung und die Frage der Identität“ zu Beginn der 2020er-Jahre. Es ist überschrieben mit „Aus der Pussy“. ens Balzer hat über die geborgten und vermischten Identitäten ein eigenes Büchlein gemacht.

Jens Balzer: Ethik der Appropriation

In diesem knapp 90-seitigen Text in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ des Verlags Matthes & Seitz erweitert Balzer den Blick auf den zurzeit wütenden „Diskurs“ über die Legitimität der kulturellen „Aneignung“.

Was ist so schlimm daran, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe bemalt?  Das kann man fragen; freilich muss man sich dann auch eine andere, scheinbar weniger unschuldige Frage stellen. Sie lautet: Wenn es in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist, sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe zu bemalen, ist es dann in Wirklichkeit auch gar nicht so schlimm, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalt? Bei der Antwort auf die erste Frage kann man eventuell zögern, abwägen und diskutieren (zumal wenn man sentimentale Erinnerungen an die Cowboy-und-Indianer-Spiele der eigenen Kindheit hegt). Bei der zweiten Frage hingegen scheint die Antwort sofort klar: Natürlich darf man sich als weißer Mensch   auf keinen Fall das Gesicht mit schwarzer Farbe  bemalen. Das »blackfacing« ist eine rassistische Praxis, die Menschen mit schwarzer Hautfarbe  verhöhnt und erniedrigt. Zumindest ein großer Teil der aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft wird dies bestätigen, ohne zu zögern.

    Jedenfalls sehen wir das heute so. Bis sich diese Einsicht durchgesetzt hat, gehörte das »blackfacing« über Jahrhunderte hinweg aber zu den selbstverständlichen und unhinterfragten Bestandteilen der Popkultur.

Balzer hält nicht die „Appropriation“ an sich für verwerflich, sondern ihren Ge- bzw. Missbrauch zur Ausbeutung oder Verhöhnung. In dieser Hinsicht hat sich weiße Macht und weißes Geld lange Zeit der eingesammelten Andersartigkeit bedient und damit seine Herrrschaft vertieft.

Die Debatte um »cultural appropriation« kreist gegenwärtig nur um Kritik und Untersagungen  und wird vor allem, wenn nicht ausschließlich, im Modus der Verbotsrede geführt. So unmittelbar einsichtig in jedem einzelnen Fall die Einsprüche gegen die Aneignung der kulturellen Traditionen von jemand anderem auch sein mögen, so sehr widersprechen diese Verbotswünsche in ihrer Summe doch dem ebenso unmittelbar einsichtigen Eindruck, dass es so etwas wie in sich geschlossene, mit sich selber identische kulturelle Traditionen gar nicht gibt, weil jede Art der Kultur schon immer aus der Aneignung  anderer Kulturen entstanden ist; weil sich kulturelle Schöpfung, Beweglichkeit und Entwicklung ohne Appropriation gar nicht denken lassen. Kultur ist Aneignung, was umso  mehr gilt in einer Welt, die geprägt ist von der Globalisierung der Kommunikation und der kulturellen Produktion. Seit die elektronischen Massenmedien und schließlich das Internet jedes irgendwo auf der Welt existierende Bild, jeden Sound, jede Art der Selbstinszenierung verfügbar gemacht haben, kann man sich jederzeit von jedem beliebigen »kulturellen Artefakt« (Susan Scafidi) aus welcher Tradition auch immer inspirieren, anregen, herausfordern lassen. Und dass das so ist, bedeutet zunächst einen Zuwachs an Möglichkeiten, an individueller, künstlerischer und existenzieller Freiheit.

   Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Aber zugleich ist sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Man könnte sagen, dass dies für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Verhältnisse in bestimmten Formen der Appropriation besonders deutlich zutage: Es sind jene, die der Gewaltlogik führt, die letztlich in das Völkische mündet. Wer auf diesen Holzweg nicht gehen will, muss die Kritik der falschen Appropriation aus einer Bestimmung   der richtigen Appropriation heraus entwickeln, oder anders gesagt: Man kann das dialektische Wesen der Appropriation — ihre schöpferische, kulturstiftende Kraft und ihre Verstrickung in Macht- und Ausbeutungsverhältnisse — nur dann zur Gänze   erfassen, wenn man sie einer ethischen Betrachtung unterzieht.

Jede „Kultur“ ist ein „Sampling der Identitäten“. Man muss sich in die Terminologie der Betrachtung einlesen, doch betreibt Balzer nicht nur Theorie, sondern erläutert die Ambivalenzen der Ethik anhand vieler Beispiele, die er auch hier überwiegend in der populären Musik findet.

1954, Spielt Elvis Presley in den Sun Studios in Memphis seine erste Single ein: »That’s All Right« stammt im Original von dem  schwarzen Bluesgitarristen Arthur Crudup. Mit dem Rock ’n‘ Roll von Elvis schlägt die Geburtsstunde der modernen  Rockmusik, wie wir sie kennen. Doch auch der Rock ’n‘ Roll wurzelt tief in der schwarzen Musiktradition, im Rhythm ’n‘ Blues der 1940er-Jahre, der am Anfang übrigens nicht Rhythm ’n‘ Blues hieß, sondern »Race Music«. Eine ganze Generation von schwarzen Musikern erfindet die Musik, die Gesangstechniken, den Habitus, den Stil, mit deren Aneignung Elvis zum »King of Rock ’n‘ Roll« auf- steigt: ein weißer Junge, gerade zwanzig geworden, der alles, was ihn so spektakulär machen wird, von seinen schwarzen Vorbildern übernimmt – und dann mit ein paar weißen Country- und HillbillyEinflüssen verbindet, um es dem weißen Publikum noch schmackhafter zu machen.

Inhaltsangabe und Leseprobe beim Duden Verlag

Christoph Leibold (BR) im Gespräch mit Jens Balzer (Text)

Ethik der Appropriation (Talk) | Pop-Kultur 2022
(Gespräch – 50 Minuten)


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