Nachrichten vom Höllenhund


Kelman
13. Dezember 2011, 11:17
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Stephen Kelman: Pigeon English

Harri Opoku ist mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Ghana nach England gekommen und so wird er von seinen Straßenkumpels auch „Ghana“ gerufen. Dass er schwarz ist, wird nicht weiter thematisiert, denn das Hochhausviertel, in dem er lebt, ist Stigma genug. Der Handlungsraum des Elfjährigen ist rigide begrenzt und bei seinen Kumpels weiß man nicht, ob es Freunde oder Feinde sind. In acht nehmen muss man sich vor allen, denn die Seilschaften können schnell wechseln.

 Du siehst nicht, wo die Grenzlinien verlaufen, aber du weißt, dass sie da sind. Du musst sie einfach im Kopf mit dir rumtragen. Der Tunnel hinter dem Einkaufszentrum ist so eine Grenze. Wenn du sie überschreitest, bist du dran. Ich geh gar nicht erst in diesen Tunnel rein. Der ist mir unheimlich. Es ist immer dunkel da drin, selbst wenn die Sonne scheint, und das Wasser in den Pfützen ist voll fies und vergiftet.
Die Straße an meiner Schule vorbei ist die nächste Gren­ze. Dahinter ist Sperrgebiet. Näher als bis zur Bushaltestelle am Hügel bin ich noch nie gewesen. Weiter hab ich mich nicht getraut.
Die nächste Grenze ist die Straße am Ende vom Fluss. McDonald’s liegt auf der anderen Seite. Ich bin noch nie drüben gewesen, außer mit Mamma im Bus. Wenn man dort alleine hingeht, ist man auch dran. Die Straße gehört der Lewsey Hill Crew.
Die letzte Grenze ist die Eisenbahnlinie. Die ist ganz schön weit weg, hinter dem Fluss. So weit war ich noch nie. An der Eisenbahnlinie tragen sie die Kriege aus. Das ist das Schlachtfeld. Zwischen der Dell Farm Crew und der Lewsey Hill Crew hat sich da mal eine mörderische Schlägerei abge­spielt. Gut tausend Leute. Alle mit Messern, Baseballschlä­gern oder Schwertern. Einige sind gestorben. Aber das war früher, lange bevor ich hergezogen bin.
Jordan: »Sie haben denen Arme und Beine und alles abgeschlagen. Das war echt krank. Die sind immer noch da. Man kann die Arme und Beine noch von den Bäumen bau­meln sehen. Sie haben sie zur Abschreckung hängen lassen. «
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß ja nicht mal den Weg zu den Gleisen.
Die Grenzlinien bilden ein Viereck. Nur wenn du im Viereck bleibst, bist du sicher. Es ist unser Zuhause. Zu Hause können sie dich nicht umbringen. Das Beste an Zu­hause sind die vielen Verstecke.

Nur Dean scheint ein echter Freund zu bleiben und mit ihm erklärt sich Harri zu detectives, denn ein Junge ist ermordet worden. Die Polizei tappt im Dunkeln, falls sie denn überhaupt tätig wird. Harri und Dean besitzen ein Plastikfernglas, basteln sich ein Klebeband zur Abnahme von Fingerabdrücken, denken sich naive Fangfragen aus, träumen vom Leben und Überleben.

Stephen Kelman schildert alles aus der Perspektive, mit den Gedanken und Worten des Elfjährigen. So etwas geht oft schief und wird zur Kleiner-Nick-Verballhornung, Kelman aber taucht überzeugend ein in die Fantasiewelt, in die Ängste und Strategien des Kindes, auch die Gespräche sind glaubhaft, kindlich in den Assoziationen, derb in den Worten, denn derb ist die Realität, nur Nachahmung verleiht credibility. Harri malt sich sogar Streifen auf seine Billigsneakers, damit sie wie Adidas aussehen. Der Schnellste seiner Klasse ist er sowieso. Das zählt und ist wichtig beim Davonrennen.

 Killa trat gegen den Eierkarton, und sämtliche Eier flogen durch die Luft. Ich sah Angst und rote Augen auf Mr Frimpongs Gesicht. Ich stellte mir vor, seine Gedanken zu lesen: Er dachte, wo ist Gott, wenn du ihn brauchst? Denn das dachte ich auch. Er versuchte die Jungs zu ver­scheuchen, aber seine Arme waren zu kurz. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Es war zu schrecklich. Dann kam X-Fire. Er hatte seinen Schal vorm Gesicht. Er durchwühlte Mr Frimpongs Taschen und fand sein Portemonnaie. Verrückt, das hattest du noch nie gesehen. Er fragte nicht mal.
X-Fire: »Lass los, du alter Sack, oder ich stech dich ab.«
Mir war zum Kotzen. Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich konnte. Ich guckte nicht mehr zurück, ich wollte nur noch weg.
Damit hatte ich meine letzte Chance vergeben. Wenn du bei zwei Einsätzen versagst, kannst du es vergessen, je rein­zukommen. Ich hätte einfach nur bis zum Ende dableiben müssen. Aber ich hatte ja nicht gewusst, dass das Ende so –
X-Fire: »Wo willst du hin, du F-er?«
Ich stellte mich taub. Ich rannte einfach. Ich rannte am Spielplatz vorbei, am Park und den ganzen Häusern, und blieb erst am Tunnel wieder stehen. Mir war der Atem ausgegangen. Mein Bauch fühlte sich nach Messern an. Ich berührte in der Tasche meinen Alligatorzahn, er war noch da. Ich weiß nicht, warum es mit der Kraft nicht geklappt hat.
Ich wünschte, ich wäre größer.

Und dann gibt es die poetischen Momente, wenn Harri mal allein sein kann und mit seiner Taube spricht. Die Taube, die ihn versteht, denn auch sie muss sich das Überleben erkämpfen, darf sich nicht auf falschen Plätzen aufhalten. Die Taube muss auch nicht cool sein wie die Menschen, man kann sich vorstellen, ihr Beschützer zu sein.

 Ich: »Du bist gekommen. Ich wusste es.«
Taube: »Keine Angst, bald bist du zu Haus. Wenn es Zeit ist, zu gehen, zeige ich dir den Weg.«
Ich: »Kann ich nicht hierbleiben?«
Taube: »Das liegt nicht in meinem Ermessen. Du bist heimgerufen worden.«
Ich: »Es tut weh. Arbeitest du für Gott?«
Taube: »Es tut mir leid, wenn es wehtut. Aber es wird nicht mehr lange dauern.«
Ich: »Ich mag deine Füße. Die sind hübsch und so krat­zig. Mir gefallen alle deine Farben.«
Taube: »Danke sehr. Ich mag dich auch, ich mochte dich schon immer. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst. «

Ichschwör!“ Ein hartes Buch über Menschen in harten Zeiten. Die Flucht von Afrika ist eine Flucht in neues Elend. (2011 Booker Shortlist)

2011        300 Seiten

2-

Auch Hisham Matar lässt in seinem Roman „Im Land der Männer“ ein Jungen erzählen, wie die Realität nicht erlaubt, Kind sein zu dürfen.

In Michael Frayns „Das Spionagespiel“ ist Stephen mit der Einordnung der Rolle seiner Familie im Krieg gegen Deutschland überfordert. Er legt sich eine Traumwelt zurecht, die zwischen Geheimnissen und Seifenblasen schillert.


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: