Filed under: - Belletristik
Ian McEwan: Kindeswohl
Adam leidet an Leukämie und wird sterben oder schwer behindert überleben, wenn er keine Bluttransfusion erhält. Adams Eltern sind „Zeugen Jehovas“, die eine Transfusion aus religiösen Gründen ablehnen. Die behandelnden Ärzte wollen vor Gericht eine Blutübertragung einklagen, der Fall liegt in der Zuständigkeit von Familienrichterin Fiona Maye.
Der Prozess ist das Zentrum von McEwans Roman „Kindeswohl“. Der Originaltitel lautet „The Children Act“ nach einem englischen Gesetz von 1989, das die Justiz verpflichtet, „in jeder Frage der Sorge für die Person eines Kindes (habe) das Wohl des Kindes als oberste Richtschnur zu dienen“. Adam ist knapp unter 18, er fällt noch unter das Gesetz, nach der „Gillick-Kompetenz“ aber können Jugendliche, die bald volljährig werden, wie Erwachsene beurteilt werden, wenn man ihre „Reife“ feststellt. Der Fall wird durch dieses Dilemma für Fiona noch heikler.
Ausführlich befasst sich McEwan mit den rechtlichen und ethisch-philosophischen Implikationen, lässt Betroffene und Zeugen auftreten. Fiona Mayes Urteilsbegründung wird zitiert und bildet den Höhe- und Wendepunkt des Romans.
McEwan erzählt aus der Perspektive der Richterin Fiona. Sie hat die gebotene Distanz, sie muss unabhängig bleiben, für Adams soziale Betreuung ist Marina Greene zuständig, Fiona hat sich herauszuhalten. Aber sie macht einen „Fehler“ und erst dadurch wird „Kindeswohl“ von der Abhandlung zum Roman. Nicht zuletzt, weil ihre Ehe in einer fundamentalen Krise steckt, beschließt die fast 60-jährige Richterin (als „alte Schachtel“ sieht sie sich), Adam im Krankenhaus zu besuchen, um sich ein persönliches Bild des Jungen zu machen. Von beruflichem Interesse geleitet, kommt sie Adam näher, als es für beide zuträglich ist. Adams Interesse am Geigenspiel und Gedichte sind das Medium. „Eine recht fragwürdige und seltsam gefühlsbeladene Argumentation ist das, die der Autor hier für seine ansonsten doch so professionell agierende Protagonistin entwirft.“ Vielleicht spielt aber auch ihr unerfüllter Wunsch nach Kindern eine Rolle. Die Wandlung Adams ist „nicht glaubwürdig entwickelt“. (Angela Gutzeit, Deutschlandfunk)
Die Anlage des Romans wirkt gespreizt. Die Probleme, die Fiona und Jack nach langer Ehe haben, sind nichts Außergewöhnliches (Jack zur Frage des Seitensprungs: „Ich versuche offen mit dir zu sein. Ich habe sie zum Lunch getroffen. Nichts ist passiert. Ich wollte erst mit dir reden, ich wollte … «”), werfen Fiona aber doch so sehr aus der Bahn, dass sie von ihren privaten Gedanken gefangen wird und sich zwar durch den Beruf ablenken, aber eben doch nicht genug Selbstkontrolle aufbringen will. Dennoch bleiben für mich die beiden Teile des Buchs äußerlich. McEwan wendet die Methode häufiger an („Am Strand“, „Solar“), doch hier ist das eigentliche Thema zu dominant, zu schwer, „der Rest ist Beiwerk“ (RainerErlinger, SZ) ,die Homestory zu beliebig, Denis Scheck nennt’s „Schmonzette“.
Sie beobachtete eine Nachbarskatze, die da unten zimperlich um eine Pfütze herumschlich und sich im Dunkel eines Strauchs verlor. Jacks Rückzug machte ihr keine Sorgen. Ihr Gespräch hatte auf eine schmerzhafte Offenheit zugesteuert. Es ließ sich nicht leugnen, sie war erleichtert, sich plötzlich auf neutralem Boden, in der kahlen Steppe der Probleme anderer Leute wiederzufinden. Schon wieder Religion. Die auch Tröstungen bereithielt. Da der Junge fast achtzehn war, also fast volljährig, musste seinen Wünschen besondere Beachtung geschenkt werden.
Vielleicht war es pervers, in dieser jähen Störung eine Verheißung von Freiheit zu sehen. Auf der anderen Seite der Stadt drohte einem Teenager, um seines oder seiner Eltern Glauben willen, der Tod. Es war weder ihre Verantwortung noch ihre Aufgabe, ihn zu retten, sie hatte nur darüber zu befinden, was vernünftig und rechtmäßig war. Sie hätte sich diesen jungen gern selbst angesehen, für eine oder zwei Stunden den häuslichen Morast, aber auch den Gerichtssaal hinter sich gelassen, einen Ausflug unternommen, sich in die komplizierten Einzelheiten vertieft und sich aus eigener Anschauung ein Urteil gebildet.
P.S. Fiona begleitet am Klavier einen Kollegen bei einem Vortrag von Mahlers “Rückert-Liedern”. Der Titel “Ich bin der Welt abhanden gekommen” ist im Englischen mit “I really am as good as dead to the world” übersetzt. Arme Sprache.
2014 220 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
Hörprobe – gelesen von Eva Mattes
Diskussion im Literaturclub des SRF (Video) – es wird viel verraten!
Ian McEwan: “The law versus religious belief “ – The Guardian 2014
Ian McEwan on religion in the 21st-century – Video 7:30
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar