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Bini Adamczak:
Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende

Dass es 1917 eine Revolution gab, davon habe ich gelesen und gesehen, die von 1968 ist, irgendwie, an mir vorbeigegangen, kommende, irgendwann?, klingt nach mehreren, als wäre auch die nächste keine endgültige. Bini Adamczak schaut sich zunächst den Verlauf und die Mängel der russischen Revolution genauer an und erkundet bevorzugt die Inklusion der Frauen. Das größte Defizit der 1917er Revolution ist natürlich, dass sie von Stalin und seinen Männern vorzeitig abgewürgt wurde, doch stellt Bini Adamczik auch eine „universelle Maskulinisierung“ fest.
Soziale Ungerechtigkeit, in diesem Fall die geschlechtliche, wird im traditionellen sozialistischen Koordinatensystem nicht im Modus der Anerkennung von Differenz, auf der Ebene der Norm also, bekämpft, sondern durch die materielle Angleichung der Lebensverhältnisse. Die Norm, welche die Richtung dieser Angleichung (hier: Vermännlichung) vorgibt, wird dabei nicht in Frage gestellt. Die Dominanz sogenannter Männer ist somit, wenn auch kein kontingenter, so doch ein temporär konzipierter Effekt der »bolschewistischen Revolution«, während die Dominanz von Männlichkeit eins ihrer implizit wie explizit bestätigten Ziele ist.
Für die Bolschewiki konnten alle Menschen vollwertige Menschen, also Männer werden, eben auch Frauen — während eine konservative Politikkonzeption, die die subjektivierende Zweiteilung der Welt affirmiert, eine Überschreitung der Grenzen erschwert. Daraus folgt der paradoxe Effekt: Keine Politik war frauenfördernder als die bolschwistische des universellen Androzentrismus.
Für die russische Revolution führt Bini Adamczak eine interessante Diagnose an: die „postrevolutionäre Depression“, welche die befällt, die nach getaner Umwälzung in das Loch des nunmehr Tatenlosen fallen, und die, die für die Revolution zu spät geboren waren.
Für 1968 registriert Bini Adamczik eine „differentielle Feminisierung“.
An die Stelle der revolutionären Konstruktion universeller Maskulinisierung der Revolutionswelle von 1917 trat mit der Revolutionswelle von 1968 so keine Konstruktion universeller Feminisierung, sondern eine Bewegung differentieller Feminisierung. Wo 1917 versucht hatte, das Private abzuschaffen, Reproduktion zu maskulinisieren, Emotionalität zu rationalisieren, das Sexuelle zu zivilisieren und menschliche Beziehungen zu ökonomisieren, versuchte 1968 das Private zu politisieren, Produktion zu feminisieren, Rationalität zu kritisieren, Kultur zu sexualisieren und die Ökonomie zu vermenschlichen. Der berühmte Slogan der zweiten Frauenbewegung »Das Private ist politisch« hatte nicht so sehr den Effekt, dass in Küche, Wohnzimmer und Bett nun politische Diskussionen nach dem Vorbild öffentlicher Debatten geführt wurden, sondern mehr, dass die Erfahrungen der Küchen, Wohnzimmer und Betten in den Debatten der Öffentlichkeit Einzug hielten. Über das, was in den berüchtigten eigenen vier Wänden vor sich ging, wurde nicht länger geschwiegen.
Bini Adamczak sieht die Revolution nicht primär als politischen Wandel/Umbruch, sondern als eine veränderte Weise, wie Menschen ihre Beziehungen gestalten. Sie denkt sich das Bild von Synapsen, eines sich ständig neu bildenden Systems von Denk- und Verhaltensweisen. In diesem Netzwerk sind Männer wie Frauen eingeschlossen und alle, die dazwischen liegen oder darüber hinausgehende Geschlechter. Sie steht damit auf der Höhe der Naturwisswenschaften, die auch die Gesellschaftskonstruktionen beschreibt:
„Was in der modernen Atomphysik als Kern allen Stoffes bleibt, sind also im Wesentlichen strukturierte Wechselwirkungen von Energiefeldern, die man eher als Vorgang denn als Ding verstehen sollte. Hans-Peter Dürr formulierte dies so: »Auf der Quantenebene gibt es eigentlich nur das, was man Wechselwirkung nennt. Eine Wechselwirkung ohne Dinge, die miteinander wechselwirken. Und das, was wir dann Materie und Substanz nennen, das sind Verklumpungen dieser Wechselwirkungen. «“ (Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind)
Nicht ganz leicht zu lesen, weil man sich in die – queerfeministische – Terminologie einarbeiten muss. Bini Adamczik hat viel Vorarbeit geleistet und umfangreich recherchiert. Ob alles plausibel, korrekt und relevant ist, vermag ich nicht zu entscheiden.
Das »Herz« der Revolution ist groß. Was sich jedoch aus queerkonununistischer Perspektive erkennen lässt, ist, wie sich die gesamte Fragestellung sozialer Transformation verschiebt, wenn die Existenz von Männern und Frauen nicht mehr vorausgesetzt wird, wenn Differenzen nicht übergangen, aber ihr vorsozialer Status bestritten wird. Die Fragen, die gegen den falschen Universalismus des Bürgertums oder auch des sozialistischen Staatsproletariats in die Welt gezwungen wurden, die Fragen der Frauen, der Jüdinnen, der Kolonisierten, der Migrierten, der Homosexuellen, der Behinderten, der Transgeschlechtlichen, der Intergeschlechtlichen also, sind dann nicht mehr die Fragen der Frauen, der Jüdinnen, der Kolonisierten, der Migrierten, der Homosexuellen, der Behinderten, der Transgeschlechtlichen, der Intergeschlechtlichen, sondern die mittelbar universellen Fragen mindestens der Menschheit selbst. Dies sind nicht die Fragen der Partizipation oder Anerkennung, schon gar nicht der Akzeptanz und Toleranz. Aus der Konstellation von 1917 und 19 68 ergibt sich eine Perspektive, welche über die identitäts- und subjektzentrierten Fragestellungen hinausweist. Aus dieser revolutionären Perspektive, die aus den vorgefundenen Möglichkeiten eine Welt zu erschaffen hat, erscheinen alle Identitäten, die die Geschichte der Herrschaft den jeweils Lebenden vor die Füße geschleudert hat, als Reichtum potenzieller Existenzweisen, den diese sich aneignen können, um die Fragen zu beantworten: Wie wollen wir leben, wer wollen wir werden, durch welche Beziehungen wollen wir existieren?
Leseprobe und Links beim Suhrkamp-Verlag
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Ralf Höller: Das Wintermärchen.
Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919

Ralf Höller ist Historiker, Journalist und Buchautor, so stellt ihn der Verlag vor und so steht das auch bei wikipedia. „Bereits 1999“ hat er „ein Standardwerk über die münchner Räterepublik 1918/19“ geschrieben. Viel mehr ist über ihn nicht zu erfahren, auch auf seiner Homepage enden die Einträge 2017. Er hat sich aber viel Mühe gegeben, die Erzählungen von Schriftstellern über die „bayerische Revolution“ zu sichten und in den Verlauf der Geschichte einzuordnen. Im „Vorspann“ listet er die Akteure der „tragenden Rollen“ auf, „in der Reihenfolge ihres Auftretens“ von Kurt Eisner bis zu Ernst Niekisch.175 Tage hat sie gedauert, die Revolution und die Räterepublik. Über das politische Geschehen findet man nichts wesentlich Neues – wenn man sich für Geschichte interessiert.
Höller erzählt akribisch, was die Schriftsteller in diesen 175 Tagen gemacht, gedacht, geschrieben, wen sie getroffen haben, in welchen Straßen und Räumen Münchens sie sich aufgehalten haben. Höller hat gute Arbeit geleistet, das Ergebnis liest sich stellenweise wie eine Sportreportage.
Den Anbruch der neuen Zeit erlebt Gustav Landauer auf dem Krankenlager. Seit Beginn des Monats grassiert in ganz Deutschland die Spanische Grippe. Die Epidemie hat den Patienten übermannt, nicht aber seinen Willen. Landauer will endlich halbwegs über den schmerzlichen Tod von Hedwig Lachmann hinwegkommen, die ihm auch Gefährtin im Geiste war. Die Auszeit ist ihm willkommen, um Kräfte zu sammeln und für einen Ruf aus München gerüstet zu sein. … Krank im Bett erlebt auch Ernst Toller den Machtwechsel in München und zwei Tage darauf in Berlin. Aus der Hauptstadt, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, ist Toller mit der Eisenbahn an die deutsche Ostgrenze gefahren, nach Landsberg an der Warthe. Im Haus seiner Mutter will er die Spanische Grippe auskurieren. Die Nachricht vom Ende des Kaiserreichs und vom schnöden Abgang des Monarchen lässt Toller die Seuche vergessen und umgehend Richtung Schlesischer Bahnhof aufbrechen. … Nicht jeder in Bayerns Hauptstadt und im Land interessiert sich für Politik. Oskar Maria Graf bekommt dies noch in der Revolutionsnacht zu spüren. Nachdem Eisner und seine Mannschaft sämtliche Schlüsselpositionen in München besetzt haben und Graf klar ist, dass der Aufstand erfolgreich verlaufen ist, gönnt er sich ein verspätetes Abendessen. In der Innenstadt findet er ein offenes Lokal. »Da saßen breit und uninteressiert Gäste mit echt Münchnerischen Gesichtern. Hierher war nichts gedrungen. »Wally, an Schweinshaxn!«, rief ein beleibter, rundgesichtiger Mann der Kellnerin zu.« Graf horcht in die Runde. Nein, von einer Revolution scheint niemand gehört zu haben.
Wo bleibt Rilke?
Rainer Maria Rilke erfährt von der Revolution aus der Zeitung. Als er die Morgenausgabe der Münchner Neueste Nachrichten in die Hand nimmt, stutzt er ungläubig. Eine solche Titelseite hat er noch nie gesehen. Sie besteht einzig und allein aus einer Proklamation der neuen bayerischen Regierung. Ihr entnimmt Rilke die Information, dass Bayern fortan ein Freistaat ist. … Thomas Mann dagegen schnauft erstmal durch.
Man erkennt nicht unmittelbar, ob Höller das Genre ironisch persifliert oder ob er sich halt umfassend informiert hat und darüber Bericht erstatten will. Das Buch ist auf jeden Fall sehr informativ.
Auch 2017 hat Volker Weidermann ein Buch mit dem selben Thema und ähnlichem Inhalt veröffentlicht: „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“. Schon der Titel lässt auf wertende Distanz und wohlwollende Ironie schließen. Weidermann arbeitet beim SPIEGEL und ist – auch deshalb – bekannter als Höller. „Träumer“ ist auch besser und konzentrierter geschrieben und hat sich durchgesetzt. Höllers Buch sei „stilistisch gewöhnungsbedürftig“, findet Andreas Plattthaus (FAZ).
Eisner und Mühsam bleiben sich in herzlicher Abneigung zugetan. … Ein Problem hat bald auch Oskar Maria Graf. … Dabei steht Thomas Mann in einem ganz anderen politischen Lager. … Einmal in Rage, holt Mann zum Rundumschlag aus: »Das ist die Revolution! Es handelt sich so gut wie ausschließlich um Juden.« Schon bald beruhigt sich Mann. … Rainer Maria Rilke hat sich in seinem bisherigen Leben der arbeitenden Klasse wenig verbunden gefühlt. … Gustav Landauer erholt sich nur langsam von gesundheitlichen und persönlichen Rückschlägen. … Nicht nur Eisner freut sich über die prompte Reaktion. Gleich nach Landauers Ankunft nimmt ihn Erich Mühsam unter seine Fittiche. Seit einem Vierteljahrhundert sind die beiden befreundet. Ob aus Eifersucht oder politischem Kalkül: Mühsam will unbedingt verhindern, dass sich Eisner und Landauer weiter annähern. … Rilke verlässt das Nationaltheater einigermaßen ergriffen.
Photobericht Hoffmann der Bayerischen Staatsbibliothek
Münchner Räterepublik – wikipedia mit links
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Mely Kiyak: Frausein

Frau sein heißt, Frau geworden zu sein. Der Weg zur Frau wird durch die Reise zwischen den Kulturen umgelenkt, gebremst oder durch Anziehungen beschleunigt. Das Ankommen ist immer ein Moment in der Gegenwart, erst, wenn man sich annimmt, gibt’s ein Innehalten. Als Frau. Als Mensch. Mely Kiyak wurde 1976 in Niedersachsen geboren, seit 1998 ist sie Deutsche, ihr Vater kam als kurdischer Alevite nach Deutschland, um zu arbeiten. All das macht den Lebensweg windungsreicher. Frausein ist in jeder Kultur, jeder Generation, in jeder sozialen Gruppen-Norm anders. Man muss ihr Frau-Sein finden. Ihr ICH.
Mely Kiyak muss zunächst von der anatolischen in die deutsche Frauen-Rolle finden. Dabei hat sie es einerseits leichter als andere Gastarbeiterkinder, denn der Vater ist Kurde, Alevit, verständnisvoll.
Die Eltern unterstützten uns, so gut sie konnten. Vor allem der Vater. Jedem von uns Kindern sagte er: Du kannst werden, was du willst. (…) Es sagt sich leicht, dass man seine Träume leben soll. Abstrakt träumt es sich aber schlecht. Das »Traut euch« des Vaters sollte eine Ermutigung sein, klang aber bedrohlich. Nach großer Anstrengung. Du kannst die Welt verändern – der Vater redete selten, das hier aber war sein absolutes Lieblingsthema. Ich werde dir nicht im Weg stehen. (…) Der Vater ist lieb und rührend, sein ständiges »Du musst die Welt verändern« aber nervte.
Das „Was du willst“ schafft aber auch Probleme, denn „deutsch“ werden, heißt: Individuum werden, auch als Frau sich selbstständig machen, den „Anschluss finden an die Moderne“. Dafür sucht man Vorbilder, Regeln, die das Alte mit dem Neuen vermitteln. „Jede Regel hat Dutzende Einschränkungen und Sondervereinbarungen. Das macht es schwierig, die kulturellen Codes auf Begriffe wie »restriktiv« oder »modern« zu beschränken, wie es von Außenstehenden gerne getan wird. Genau genommen sind die Regeln gar keine Regeln. Sie sind Versuche, unbeschadet vom Makel der niedrigen sozialen Herkunftsklasse bei allem mitzuhalten.“
Ich wurde für ein Leben im Kollektiv erzogen. Für ein Leben mit familiären Beziehungen, wo man sich für den Fortbestand der Beziehungen wie in einem Tauschgeschäft auf ein Mindestmaß an Bedürfnissen reduzieren muss.
Ich löste mich. Von Bekanntschaften, von vermeintlichen Freundschaften (ich übte für die große, die bevorstehende Trennung). Je freier ich mich von den meisten sozialen Beziehungen machte, desto besser konnte ich sehen, was mir wirklich etwas bedeutete. Fast nichts. Erstaunlich wenig.
Die nächste Hürde ist genau so hoch: “Die Ablösung von der Kultur, der Tradition. Mein Eintritt in die Universität bedeutet Bewunderung, Ansehen, Stolz und Ausgrenzung. Eine sehr entfernte Verwandte verkündet: Du bist keine mehr von uns. Sie meint das als Kompliment. Natürlich bin ich eine von euch, versuche ich mich entsetzt in den Familienschoß zurück zu verhandeln. Sei doch froh, sagte sie, du bist jetzt etwas besseres, ich wäre gerne an deiner Stelle.”
Ausnahmslos alle in Deutschland aufgewachsenen Mädchen meiner Familie erreichten akademische Abschlüsse und arbeiteten danach. Jede von ihnen ist heute verheiratet, geschieden oder neu liiert. Um die Herkunftsländer unserer dazugekommenen Familienmitglieder aufzuzeigen, benötigen wir den ganzen Globus. Lauter neue Sayn Wittgensteins. Spülbecken und Pril sind übersprungen, es brummen die Geschirrspülautomaten. Das Haar wird mit Naturkosmetik aus der Apotheke behandelt. Man ist gesundheitsbewusst. Nein, mehr als das. Man weiß jetzt plötzlich wirklich jeden Scheiß. Dieser Sprung ist und bleibt ein Mysterium. Vor allem, und das stellte sich erst spät heraus, ging jede ihren Weg allein. Es gab keinen Schulterschluss, keine Bürgerbewegung, keine öffentliche Solidarität, keine Protestmärsche, keine Projektförderungen, keine Anschubfinanzierungen. Wir fädelten uns geräuschlos in den Kreisverkehr ein und bogen in die richtige Richtung ab. Es war eine stille Revolution. Nicht einmal die Revolutionärinnen selbst merkten, was sie vollbracht hatten.
Dazu die sozialpsychologische Deutung des Aufbruchs, die Bedeutung für die Elterngeneration:
Auf einmal ergaben sämtliche Mühen der Gastarbeitergeneration Sinn. Alle Schmerzen und Demütigungen waren auf einen Schlag abgegolten, weil wir, die Töchter, die Strapazen unserer Vorfahren in Gold verwandelten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die erste Generation der Gastarbeiter nie aufbegehrte. Sich politisch nie bemerkbar machte, niemals Ansprüche stellte. Der Aufstieg ihrer Töchter entschädigte sie für alles. Bald schon fühlten sie sich quitt.
Was konnte dieses Leben meinen Eltern noch geben, nachdem sie das große Ziel ihrer Auswanderung erreicht hatten? Sie hatten ein schwaches, ständig die Unterernährung knapp überlebendes Mädchen zu einer heranwachsenden Frau erzogen, die (wie gesagt, es war nur Schein) leichten Herzens ging und eine Welt hinter sich ließ, die für die Eltern in Anbetracht des Abschieds innerhalb einer Sekunde an Wert verlor.
Der Traum bestand darin, die Armut zu verlassen, aber es war der Traum der Eltern. Nicht der eigene. Und wenn man sich schon auf den Weg macht, es ihnen zu erfüllen, dann will man nicht noch ihre Weinerlichkeit aufgebürdet bekommen.
Der Titel “Frausein” ist etwas unspezifisch. Es geht Mely Kiyak auch um die Identität als Frau, aber sie sieht die Frau als Mensch. Der Weg zu sich selbst scheint aber für die Töchter, die Mädchen schwieriger zu sein. Die Frau aus der Türkei sollte „hier nicht bleiben und eine sagenhafte, eine stolze, eine erfolgreiche Frau sein. (…) Man ist eine verzichtbare Frau.“
Mely Kiyak schreibt keinen Roman. Für den Leser macht es eigentlich wenig Unterschied, ob die Geschehnisse und Gedanken fiktiv oder auto-biografisch sind, beides kann Authentizität und Glaubwürdigkeit vermitteln. Allerdings kann sie mit der gewählten Form selbst-analytischer umgehen. Sie führt nicht vor, sondern blickt in sich hinein, findet die Worte. Das Schreiben, welches das “genaue Hinschauen” voraussetzt, wird ihr Leben. Ihr Resümee: “Trotzdem, es ist alles selbst gewählt. Ich kann nur so.“ „Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: Mit mir. Einfach nur mit mir.“
„Jeder Satz ist gesetzt.“ – Diskussion im Literaturclub des SRF
Mely Kiyaks Kolumne „Deutschstunde“ auf ZEIT-online
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Veronika Kracher: Incels.
Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults

Die erste Frage, die mir in Interviews gestellt wird, lautet in der Regel: »Was sind Incels eigentlich?« Incels, antworte ich dann, ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also: unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der sogenannten Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie.
Die Redpill-Ideologie ist, kurz skizziert, eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und eisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über die Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, Frauen zeigen, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert. Wenn People of Colour, Frauen und queere Menschen sich emanzipieren, wird die Aufwertung der eigenen Person über die Abwertung Marginalisierter um einiges erschwert, weshalb jegliche Emanzipationsbestrebungen bis aufs Blut bekämpft werden. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Männerrechtsaktivismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist.
Veronika Krachers Recherchen und Analysen des Online-Kultes der Incels versammelt ein differenziertes Bild einer aktuell zirkulierenden Verschwörungsblase, die sich in diversen Internet-Foren aufgetan hat. Den Aufbau ihres Buches und wesentliche Erkenntnisse stellt sie selbst im einleitenden Kapitel vor. Das Level pendelt zwischen wissenschaftlicher Terminologie und den esoterischen Codes der Blasen-Foren. Im wechselseitigen Bezug der Betrachtungen ergeben sich manche Überlappungen, so dass das Buch 260 Seiten füllt. Mir hätten zur Einstiegs-Information auch weniger gereicht. Dennoch ist faszinierend zu sehen, welche Blüten die Blase treibt, welche Codes und Memes generiert werden, wobei die Arkan-Sprache schon weitgehend die Gemeinschaft konstituiert, der sich Incels anvertrauen.Die Incel-Wörter werden in einem Glossar im Anhang nochmals erklärt.
Die Welt sei vor der Geißel des Feminismus nach dem Prinzip des »Looksmatching« gestaltet gewesen, was bedeutet: Incels sortieren Menschen, ähnlich wie Pick-up-Artists, in »Attraktivitätslevel« von eins bis zehn ein. Früher sei einem Mann des Attraktivitätslevels »vier« eine Frau des gleichen Attraktivitätslevels garantiert gewesen, heute seien Frauen jedoch dem Anspruchsdenken verfallen, nur noch »Chads« könnten ihnen genügen. Deswegen bleibe keine Frau mehr für den armen, einsamen und jungfräulichen Incel übrig (dessen Idealfrau übrigens minderjährig, jungfräulich, unterwürfig und einem grenzwertigen Anime entsprungen sein muss), ja eigentlich ist schon jeder Mann unter dem Level »acht« in den weiblichen Augen eine unerträgliche ästhetische Zumutung. Dieser vernichtenden Kränkung der »Sexlosigkeit« kann für Incels nur mit einem Mittel begegnet werden: dem Krieg gegen Frauen, der bis zum Femizid reicht.
Zunächst befasst sich Veronika Kracher mit der Entstehungsgeschichte der Incels „von einer Selbsthilfegruppe hin zu einem toxischen Kult“ und berichtet über die Anzahl der Mitglieder der Szene, über ihre Herkunft, ihr Alter und ihre Organisation auf unterschiedlichen Foren.
Die User dieser Foren sind mitnichten alle potentielle Terroristen, das möchte ich noch einmal betonen. Aber es wird ein Umfeld geschaffen, in dem man sich selbst, schwankend zwischen Selbstinfantilisierung (»diese miesen Feminist*innen ruinieren mir das Leben, ich bin ein armes Opfer!«), Dehumanisierung derjenigen, von denen die vermeintliche Bedrohung ausgeht (»Guck dir mal dieses Opfer an, lol«) und Legitimation der Gewalt (»Die hat es nicht anders verdient, als dass wir sie doxxen«), zunehmend unempfänglich macht, andere Menschen empathisch als Subjekte zu begreifen. Dies steht auch einer Ich-Entwicklung diametral entgegen.
Im darauffolgenden Kapitel werde ich eine tiefenhermeneutische Analyse der Incel-Ideologie anhand Elliot Rodgers Manifest My Twisted World leisten, das innerhalb der Incel-Community inzwischen Kultstatus erlangt hat. Anschließend wende ich die Textanalyse auf Incel-Foren an und analysiere dort exemplarisch an der verwendeten Sprache die dahintersteckende Ideologie.
Die Ideologie ist stark vom neoliberalen Diktat der Selbstoptimierung und der propagierten Vereinzelung geprägt. Erzeugt wird eine Ängstlichkeit, der der isolierte Mann nichts entgegenzusetzen hat als selbstmitleidige Jämmerlichkeit und wütend herausgebrüllte Schuldprojektion.
Diesen Tätertypus werde ich im letzten Teil des Werkes vor allem anhand der Theorien von Raewyn Connell, Rolf Pohl, Klaus Theweleit, Theodor W. Adorno und Kate Manne beschreiben und eine sozialpsychologische Analyse von Incels durchführen. Da ich einen materialistisch-feministischen Anspruch an meine Arbeit habe, wird diese Analyse vor einer Kritik am patriarchal strukturierten Kapitalismus erfolgen. Trotz der Begrifflichkeit, die in persönlichem Ansatz und engagierter Wertung aufgehoben ist, sehr lesenswert. Die Zahl der zerstörerischen Frauenhasser wird immer größer und die “Manosphere” radikalisiert sich.
„Girls, I will destroy you!“ – Frauenhass im Internet – Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung (30 Minuten)
Hinweise auf die Gefährlichkeit von Incels in „Watson“:
Auch der rechtsextreme Attentäter von Halle hatte seine Tat mit Hass auf Feminismus begründet. Und nutzte dabei die Begriffe «Chad» und «Stacy», die in der Incel-Bewegung stellvertretend für die Gruppe von Menschen stehen, die sie für ihre Situation verantwortlich machen. Wie Recherchen des ARD-Magazins Panorama ergaben, war das Lied, das der Attentäter in seinem Auto spielen liess, ebenfalls eine Hommage an den Attentäter von Toronto.
„Unfreiwillig Jungfrau“ – Artikel in „Spektrum“
Videos zu Incels – Google-Liste
Videos mit Veronika Kracher – Google-Liste
Vorträge von Rolf Pohl zum Thema Misogynie
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Erik Schilling: Authentizität.
Karriere einer Sehnsucht

„Können Affen Selfies machen?“ – „Na klar!„, antwortet Erik Schilling scheinbar spontan. Doch sein Urteil ist wohlbegründet. „Das Selfie ist die Kulmination zugeschriebener Authentizität im Bereich der sozialen Medien. Erstens prädestiniert die erforderliche Technik, die Handy-Kamera eigenhändig für ein Foto zu verwenden und trotzdem selbst auf dem Foto zu erscheinen, das Selfie für fotografische Authentizitätseffekte. (…) Künftig könnte also ein Gesetz den Affen ihre authentische Selbstbetrachtung auch urheberrechtlich ermöglichen, wie es Peta im Anschluss an das Urteil forderte: «Naruto das Recht zu verweigern, Urheberrechte in Anspruch zu nehmen, bestätigt Petas Einschätzung, dass der Affe diskriminiert wird, nur weil er ein Tier ist.» Nicht nur ein Affe hat sich in diesem Prozess authentisch zum Affen gemacht.” (Naruto ist “ein sympathischer Schopfmakake“.)
Erik Schilling hat für viele Fragen prägnante Antworten – und fundierte Argumente, die sich auf breit und tief differenzierte Vorüberlegungen stützen. “Ist Donald Trump real? Yes, he is.” – “Wie werde ich schwul? Gar nicht. Ich bin es –oder ich bin es nicht.” – “Warum schauen Intellektuelle nicht RTL Il (oder doch)? Weil sie Gossip in Form vonAutobiographien oder Tagebüchern konsumieren.“ – “Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er der gesellschaftlichen Norm für «männlich» entspricht.” – “What is the Question of Nigga Authenticity? Neben der Zuteilung zu spezifischen Persönlichkeitskategorien auf der Basis von angeblichen Wesensmerkmalen ist für das Streben nach Authentizität im Verhalten des Individuums häufig die Zuordnung zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe entscheidend.” – “Bin ich Teil meiner Generation? Nicht nur ein Teil – ich bin meine Generation.“
Bevor Erik Schilling Authentizität “in Literatur und Kultur” bzw. anhand “echter Politiker?” in der Gesellschaft untersucht, widmet er sich sehr intensiv “Begrifflichem” zur Authentizität. Da werden Authentizitätsindikatoren von Authentizitätskonventionen unterschieden, da geht es um subjektive und intersubjektive Authentizität, um Authentizität als Sehnsucht nach Wahrheit, Übersichtlichkeit, nach Kontrolle.
<Authentisch> nennt ein Beobachter die Übereinstimmung einer Beobachtung (z. B. einer Eigenschaft, Aussage oder Handlung) mit seiner Erwartung (bezüglich einer Person oder eines Objekts).
Fazit: Wann immer ein Individuum oder eine Gruppe zu wissen glaubt, auf welche Eigenschaft eine bestimmte Beobachtung <authentisch> verweise, worum es sich bei einer bestimmten Sache handle oder woran die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie festzumachen sei, ist Vorsicht geboten. Die Definition von Authentizität als Übereinstimmung der Beobachtung eines Beobachters mit seiner Erwartung vermeidet dies.
Gegen das Authentizitätsparadigma setzt Schilling auf die Lust an Freiheit, Pluraltät und Toleranz. Es
stellt sich die Frage, ob wir nicht viel euphorischer in der Affirmation von Ambiguität leben sollten. Wo die Suche nach <Identität> großgeschrieben wird, sei sie national, politisch oder sexuell gedacht, wo <Authentizität> bezogen auf Politiker, Restaurants oder Erlebnisse das Mantra der Stunde ist – da erlaube ich mir die Frage, ob die damit jeweils verbundene Vereindeutigung nicht unterkomplex ist. Ich wage die These, dass die Wahrnehmung von und der kompetente Umgang mit Ambivalenz ehrlicher und sinnvoller sind als deren Reduktion. Ich behaupte, dass die damit verbundene Ambiguitätstoleranz das Leben spannender macht.
„Was wir also brauchen, ist mehr Toleranz für Widersprüche, mehr Bereitschaft zum Kompromiss, mehr Lust auf Veränderung – verbunden mit der Fokussierung auf die Rolle statt auf das Wesen, auf Performanz statt auf Identität, auf Ambiguität statt auf Authentizität.“ Erik Schilling ist Literaturwissenschaftler. Er versucht seine differenzierte Begriffsbestimmung einzuordnen in gesellschaftliche Kulturen und Kulte und mittels der präzisen Definition Alltagsfragen zu beantworten: “Was ist der nackte Wahnsinn?”
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Manfred Lütz: Neue Irre!
Wir behandeln die Falschen. Eine heitere Seelenkunde

Ich weiß nicht mehr, was mich auf dieses Buch gebracht hat. Vielleicht das „neue“, das mich den Inhalt für aktuell und politisch halten ließ. Ich kannte die „alten“ Irren von 2009 nicht und konnte somit auch den Autor Lütz nicht einordnen. Dabei ist nichts gegen Lütz’ Grundthese einzuwenden.
Wahnsinn finden Psychiater bei bestimmten Krankheiten. Die Öffentlichkeit spricht aber viel häufiger vom »ganz normalen Wahnsinn« und meint damit keine Krankheiten, sondern die flächendeckenden Merkwürdigkeiten, von denen die Massenmedien landauf, landab berichten. Die Folgen dieses ganz normalen Wahnsinns sind erheblich desaströser als die harmlosen Spinnereien eines Schizophrenen aus dem Nachbarhaus. Dieser offen zutage liegende ganz normale Wahnsinn beweist mit letzter Evidenz die beunruhigende These dieses Buches: Unser Problem sind die Normalen!
Stutzig werden sollte man angesichts der Vorbemerkung: “In diesem Buch ist aus rein pragmatischen Gründen der Lesbarkeit stets die männliche Sprachform gewählt worden, wofür ich Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz: »Wenn man/frau mit seiner/ihrer Partner/in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine oder sie/er in seine/ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung des Sprachproblems nicht möglich ist. »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.« Diese Auffassung teile ich. Manfred Lütz” – Der Satz ist so konstruiert, so jenseits der Realität, nur um damit eine vorgefertigte bornierte Meinung zu blegen. Für Lütz’ Verständnis sollte man keines haben.
Stutzig werden sollte man angesichts von Lütz’ vorausgeschickter Warnung: “Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Thema humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft angewiesen. Überhaupt OstWest-Falen. Ostfalen ist ja noch in Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem, aber Ost-West-Falen – da weiß man ja überhaupt nicht, wo man hinfahren soll.” Tätä!
Die ‘Einführung’ beginnt mit Eckart von Hirschhausens Leber-Bonmot und weiteren Zitaten von Kaberettisten. Hier sollte man innehalten. Manfred Lütz ist rheinisch-katholischer Theologe. Es wird heiter. “Eine heitere Seelenkunde” steht auf dem Cover und über dem Hauptkapitel. Lütz erzählt von Demenz, Sucht, Schizophrenie, Depression und weiteren “menschlichen Variationen”. Immer fragt er, weshalb die Erkrankten als “Irre” klassifiziert werden, wie eine Therapie aussehen könnte, welche die Betroffenen weniger leiden lässt und ob Behandlungen überhaupt nötig sind.
Kein Mensch ist einfach nur normal. Wenn »normal« schon nichts für die Ewigkeit ist, dann sind »normal« nur vorübergehende Verhaltensweisen, die jedem von uns unterlaufen können, auch ihnen und mir. Auf die Gefahren dieser »Normalität« wollte das Buch hinweisen, ohne freilich ihre Segnungen zu verschweigen. Denn in diesem Leben sind wir darauf angewiesen, dass das meiste »normal« abläuft. Erst dann können wir die Kraft und die Muße finden, das Außerordentliche zu schätzen – und es davor bewahren, selber »normal« zu werden.
Ein Buch für Leser, die so viel Heiterkeit nicht irre werden lässt. Der Laie erhält einen verständlichen und mit vielen Berichten aus der Praxis aufgelockerten Bericht über Psychiatrie und Psychologie, er sollte aer doch besser ein profunderes Werk lesen. Auf Lütz’ Geplauder kann man verzichten.
P.S. Ein Nachtrag zur Behandlung von Wahnvorstellungen, welche ja derzeit wahnsinnig zunehmen.
Genau das zeichnet den Wahn ja aus, dass man ihn nicht mit Argumenten beseitigen kann. Sollte das dennoch gelingen, hätte man damit nicht die gesamte Psychiatrie widerlegt. Denn dann war es kein Wahn, sondern allenfalls eine fixe Idee nach dem bekannten Motto: »Bumerang ist, wo wenn man wegwirft und kommt nicht wieder, ist keiner gewesen.« Dem Patienten nun wurden sogenannte Neuroleptika verabreicht, zunächst zur Wirkungsbeschleunigung als Spritze, dann als Tropfen, später als Tabletten. Und siehe da, nach etwa vier Wochen hatte der Patient sich von seinem Wahn komplett distanziert und fragte mich ratlos: »Sagen Sie, Herr Doktor, wie konnte ich eigentlich auf so einen Unsinn kommen?«
Schickt Lütz zu den Verschwörungsirren, zu den Realitätsverblendeten, zu den wahnhaft „Normalen“.
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Richard David Precht:
Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens

Die Menschheit gleicht einem Verrückten, der weiß, dass sein Keller brennt und dass die Flammen sich immer schneller nach oben ausbreiten. Umso fiebriger baut er seinen Dachstuhl aus, um dem Himmel näher zu kommen. Warum hält er nicht inne, um zu löschen?
Den Ausbau des Dachstuhls soll die KI bewerkstelligen. Precht legt vehement Widerspruch ein. Die Propagandisten der KI (Bostrom, Hawking, Gates, Musk und Russell. …) setzten auf die technische Lösung und deren Machbarkeit. KI solle und könne den Menschen optimieren, perfektionieren, ihn übertreffen. Precht nennt diese Perspektiven “befremdlich”.
Der Mensch, wie wir ihn heute kennen, ist kein Problem, das auf eine Lösung wartet; auch nicht auf eine Erlösung. Würde man Menschen dramatisch verändern, so hätten sie wahrscheinlich weit mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Denn jede trans- oder posthumanistische Revolution verringert offensichtlich genau das, was den Menschen ausmacht: seine Humanität. Perfektion, unbestechliche Rationalität und rasante Verarbeitung ungeheurer Datenmengen mögen beeindruckende Dinge sein, dass sie Menschen grundsätzlich glücklich machen und ihrem Leben Sinn verleihen, ist, vorsichtig gesagt, äußerst unwahrscheinlich. Und dass es das Ziel sein soll, selbst mehr und mehr zu einer Maschine zu werden, ist nur befremdlichen Menschen eingängig.
Der Mensch sei nicht reduzierbar auf Systeme oder Rationalität, Geschwindigkeit oder Logik. Innovation dürfe nicht mit Fortschritt gleichgesetzt werden, es dürfe keinen “Imperativ zur Vernutzung von allem und jedem” geben.”Alles zu dürfen und zu sollen, was man kann, ist für sie selbstverständlich.”
Immer präzisere Mustererkennung und immer leistungsfähigere Statistiksysteme schaffen noch lange keine echte Intelligenz. … Die menschliche Intelligenz ist durchzogen von Emotionalität und Intuition, Spontanität und Assoziation. Der »gesunde Menschenverstand« (common Sense) ist kein Synonym für Rationalität, sondern im gleichen Maße Einfühlung in die Situation unter dem Einfluss von Werten. Menschen denken viel seltener und viel weniger logisch als von KI-Forschern angenommen, und nicht das logische Denken macht die Menschlichkeit aus. … KI hat einiges mit Intelligenz zu tun, aber kaum etwas mit Verstand und nicht entfernt mit Vernunft.
Precht bezieht seine Kritik auf Befunde der Philosophie. Es geht ihm nicht um Technik, sondern um den Menschen.Gleichwohl ist er kein Maschinenstürmer, er wehrt sich gegen die Vereinnahmung von Fortschritt durch Apologeten der vermeintlichen Nützlichkeit und setzt dagegen den “Sinn des Lebens”. “Künstliche Intelligenz ist weder Erlösungsweg noch Teufelswerk.”Die Kapitel heißen “Von Menschen und Übermenschen”, “Der falsch vermessene Mensch”, “Maschinen und moral”, “Der Algorithmus de Todes” oder “Das kalte Herz”. Das Spektrum ist breit: von autonomem Fahren über Klima und Arbeit bis Überwachung.Ob alles begründet ist oder ob Urteile in die salopp geschriebenen Essays einfließen, kann ich kaum bewerten, mir erscheint das meiste plausibel. Prechts Bilanz der Reflexionen:
Tatsächlich geht es einzig um einen ökonomischen Nutzen, um Umsatz und Gewinne. Menschen kennen dagegen, anders als viele Firmen, auch andere Formen des Nutzens. Zum Beispiel einen moralischen oder politischen Mehrwert oder einen sozialen und ästhetischen Gewinn; Erträge, die in der kapitalistischen Ökonomie dem ökonomischen Nutzen sämtlich untergeordnet sind. Wie diese Hierarchie aufgebaut ist, hat Karl Marx in einer Fußnote des Kapital treffend beschrieben: »Kapital … flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur.“ Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere.”
Richard David Precht ist einer, der den Kapitalismus verbessern will, ihn humaner machen, die Fixierung auf Effizienz zurückdrehen. Er begründet seine Zuversicht mit Erfolgen bei der Bekämpfung des Manchester-Kapitalismus bis hin zu den Fortschritten einer sozialen Marktwirtschaft. Solcher Idealismus ist löblich und stiftet Hoffnung, man wird sehen, ob der Precht oder der Profit sich durchsetzt.
Rezension von Thorsten Paprotny auf lieraturkritik.de
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